Das Lied in der klassischen Musiktradition hat es heute ungleich schwerer als noch vor 150 oder 200 Jahren. Einsamkeit, Sinnsuche, das Wiederfinden der eigenen Befindlichkeit in der Natur. Es sind die gleichen Themen, doch mit Texten in moderner Sprache wird der Gegensatz zur heutigen Zeit noch deutlicher sichtbar. Im Umfeld der Musikhochschule Mannheim ist zu dieser Sparte immer wieder Erstaunliches zu hören. So am Freitagabend im Zeughaus, als fünf schon im Konzertbetrieb erfahrene junge Musiker die jüngste Ausgabe der „Werkstatt Lied“ mit großer Akkuratesse und Meisterschaft aufführen.
Es ist ein dichtes Liedprogramm, das die Sopranistinnen Johanna Beier und Marika Dzhaiani zusammen mit dem Bariton Hao Wen sowie den Pianistinnen Anna Anstett und Wanting Qiu als gesangliches aber auch szenisches Team gestalten. Das Konzept: Die „Werkstatt Lied“ hat Schüler des Leininger-Gymnasium Grünstadt animiert, ihr Zeitgefühl mit lyrischen Texten auszudrücken. Thema ist das strahlende, bewegte, doch gleichzeitig flüchtige Nordlicht. Kompositionsstudenten von Sidney Corbett haben diese Texte in ebenso zeitgenössische Musik gegossen, Vokalrepetitorin Barbara Baun hat ihre längst für den Konzertbetrieb aufgebauten Alumni für das erlesene Programm ausgewählt, Philippe Huguet den Abend in fünf verschiedenen Teilen inszeniert.
Sphärische Dimensionen
Gegenübergestellt treffen Lieder aufeinander, die von der Ausrichtung nicht verschiedener sein können. Die klassischen von Liszt, Schubert, Schumann und Brahms sind geschlossene organische Elemente, diejenigen der jungen Tonsetzer sind komplett offen angelegt, greifen sphärische Dimensionen mit auf. Stimmen und Klavier sind ineinandergreifende Klanglinien, die Brüche und scharfe Kanten wagen.
Johanna Beier zeigt etwa bei Brahms’ Kindheitssehnsucht „O wüsst’ ich den Weg zurück“ ihre ausgereifte Stimme, die über natürliche Klarheit, austarierte Artikulation und ein erstaunlich sicheres Timbre verfügt. Hao Wen gefällt durch anmutige Gestik, was sich besonders im preisgekrönten Lied „Engel des Verlusts“ von Emanuele Savagnone zeigt. Nord- und Polarlichtstimmung oszilliert musikalisch in einen archaischen Kosmos, der durch die eingesetzten modernen Texte bedrohlich wirkt. Die Zuversicht des romantischen Lieds ist verschwunden. Eine weitere Klangfarbe fügt Marika Dzaiani hinzu, die besonders dann brillieren kann, wenn sie ihren Sopran kokett einsetzen kann. Herauszuheben sind die exakten und empathischen Klavierbegleitungen von Anna Anstett und Wanting Qiu.
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