Die Hand des Mannes, die sich beim Spaziergang sanft, aber bestimmt in den Nacken des Jungen legt, wirkt auf Unwissende wie eine vertraute, väterliche Geste. Aber diese Hand ist keine, die das Kind beschützt, sondern eine, die es gefangen hält. In seinem Debütfilm "Michael", der beim diesjährigen Filmfestival "Max Ophüls Preis" mit dem Hauptpreis der Jury (36 000 Euro) ausgezeichnet wurde, erzählt der österreichische Regisseur Markus Schleinzer - angelehnt an die Geschehnisse im Fall Kampusch - von dem Versicherungsangestellten Michael (Michael Fuith erhielt den Preis für den besten Nachwuchsdarsteller), der im Keller einen zehnjährigen Jungen gefangen hält und regelmäßig missbraucht.
Der Film zeigt das Unfassbare in einem nüchternen, dokumentarisch wirkenden und vollkommen unspekulativen Stil mit konsequentem Blick auf den Päderasten und entwickelt seine nachhaltig verstörende Wirkung gerade dadurch, dass er das Monströse fest in die gesellschaftliche Normalität einbindet. Die Beziehungen und Auseinandersetzungen zwischen Tätern und Opfern war das große Thema im Wettbewerb des Saarbrücker Festivals, das seit nunmehr 33 Jahren einen kompakten und kompetenten Überblick über den deutschsprachigen Nachwuchsfilm gibt.
"Festung" von Kirsi Marie Liimatainen zeigt aus der Perspektive eines pubertierenden Mädchens die Mechanismen familiärer Selbstisolation, die durch eheliche Gewaltverbrechen entstehen. In "Die Unsichtbare" untersucht Christian Schwochow die Machtstrukturen am Theater zwischen einem berserkerhaften Regisseur (Ulrich Noethen) und einer unsicheren Jungschauspielerin. Mit fast schon Shakespeare'scher Wucht und differenziertem Blick konfrontiert Lars-Gunnar Lotz in "Schuld sind immer die Anderen" einen jugendlichen Straftäter in einem Projekt des offenen Strafvollzuges mit dem Opfer seiner Gewalttaten.
Vater wird zur Frau
Viele Filme des Festivals überzeugten durch Drehbücher, die mit starken Prämissen das Publikum in die Geschichten hineinziehen. So auch "Transpapa" von Sarah Judith Mettke, prämiert mit dem Preis des saarländischen Ministerpräsidenten (11 000 Euro). Hier erfährt die 15-jährige Maren (Luisa Sappelt), dass ihr Vater (Devid Striesow), der die Familie früh verlassen hat, mittlerweile eine Frau ist. Den persönlichen Konflikten im verengten, erzählerischen Raum standen in Saarbrücken Filme gegenüber, die ihre Figuren gezielt in die Mühlen der Zeitgeschichte versetzen.
Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges inszeniert der Schweizer Pascal Verdosci in "Manipulation" ein mit Klaus Maria Brandauer und Sebastian Koch hochkarätig besetztes Kammerspiel, das von einem Spionageplot ausgehend einen intelligenten Diskurs über die Manipulierbarkeit der öffentlichen Meinung führt. Als Mischung zwischen Science-Fiction und Film Noir hat Linus de Paoli sein Debüt "Dr. Ketel" angelegt, der in ein kunstvoll verfremdetes Berlin-Neukölln der nahen Zukunft reist, in der das Gesundheitssystem zusammengebrochen ist und Krankenhäuser zu Hochsicherheitstrakten werden.
Mit seiner genreverliebten Ästhetik des Schwarz-Weiß-Films gehörte "Dr. Ketel" zu den wenigen Nachwuchsfilmen, die sich an innovativen Formen versuchten. Denn so kraftvoll die Geschichten auch sind, fehlte es den meisten jungen Filmemachern an formaler Neugier und erzählerischer Originalität.
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