Allein für wunderbare Schlichtheit dieser Selbstbeschreibung muss man das Stück mögen: „Dokumentarisches Theater mit Objekten über das Leben an Orten, wo alle immer nur durchfahren.“ Die Bahn hält hier tatsächlich nicht, obwohl eine Zuglinie durch das thüringische Dorf führt. Aber damals, als die Schienen verlegt wurden, und zur Frage stand, ob die Ziegenweide für einen Bahnstopp hergegeben werden sollte, vertraten die Einheimischen die klare Position: „Die Eisenbahn würde sich ohnehin nicht durchsetzen“, wie Josephine Hock in ihrem Solo „NOR. Vom Kirchturm kann man die Zugspitze sehen“ erzählt, mit dem die Objekttheater-Künstlerin beim Figurentheaterfestival Imaginale in Mannheim gastiert.
Man zieht weg - oder stirbt
„NOR.“, das Hock im Saal des Jungen Nationaltheaters präsentiert, führt sein Publikum sowohl narrativ als auch mit figürlichen Spielanordnungen in das Dorfleben eines Ortes, der sich, über 30 Jahre nach dem Ende der DDR, leise aufzulösen scheint. Zwar gibt es einige neu zugezogene Familien, die hier Ruhe und Idylle suchen. Aber die Alteingesessenen „sind wirklich alt“, berichtet die (auf Rollschuhen über die Bühne gleitende) Hocke. „Es ziehen halt alle weg“ - „Oder sterben“, sinnieren die Mitglieder der Familie Beck in sächselndem Tonfall. Die hier als Wackeldackel-Miniaturen in Erscheinung treten. Die Pfarrerfamilie und die Gottesdienstbesucher werden bald aus Knödelteig geformt, Beistelltische und andere Kleinmöbel verwandeln sich in Kirche und Co., auf dem Boden ausgelegte Fluchtwegschilder markierten den Dorfplan. Ein Busmodell zirkelt auf einer Hocker-Drehscheibe, ein Gummifisch wippt an der Angel und in einer Vase kreiseln Kaninchenschwanz-am-Stil-Blumen.
Ein kleines bisschen müssen wir an Dylan Thomas’ wundersames Stück „Unter dem Milchwald“ denken, wenn in „NOR.“ lakonische Stimmen aufklingen und sich Objekte zu Personen und Dorfbildern formen: Man hört da vom Pfarrgarten, der mal ein Pestfriedhof war, erfährt, wie die Wende von 1989 erst „Vielen Hoffnung gemacht“ hatte, es aber danach „kompliziert“ wurde und viele Arbeitsplätze „behutsam stillgelegt“ wurden. Das geschieht mit hintergründigem Humor und einnehmender Figuren-Kunstfertigkeit. Eine weitere Aufführung findet am Sonntag, 5. Februar, 18 Uhr statt.
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