Frank Dietschreit
Zwei Stunden lang dröhnt jetzt bereits das Knattern der Maschinengewehre und Pistolen aus den Lautsprechern. John Dillinger und seine Bande sind aus diversen Gefängnissen ausgebrochen, sie haben unzählige Banken ausgeraubt und sich mit der Polizei mörderische Schlachten geliefert. Wahllos wurde, auf beiden Seiten, geschossen und gestorben. Was, so fragt sich der ratlose Kinozuschauer, mag den notorischen Traumtänzer und karibischen Fantasiepiraten Johnny Depp bewogen haben, zu einem knallharten Gangsterboss der 1930er Jahre zu mutieren, dessen blutiger Weg durch die amerikanische Gesellschaft der Großen Depression mit Leichen gepflastert war?
Der Hollywoodstar, so scheint es, hatte einfach nur das verständliche Bedürfnis, sich ein neues Image zuzulegen und vom charmant lächelnden Tausendsassa zum mythisch verklärten und legendenumwobenen Staatsfeind zu werden, der kaum je, egal ob er küsst oder schießt, eine Regung zeigt.
Doch da, John Dillingers Kumpane sind fast alle tot und die von seinem FBI-Verfolger Melvin Purvis gelegte Schlinge zieht sich immer enger um den einsamen Bankräuber, hat sich Regisseur Michael Mann eine in Zeitlupe gedrehte Szene ausgedacht, die alles Morden und Sterben für einen Moment vergessen lässt: Johnny Depp setzt sich eine kesse Sonnenbrille und sein schönstes Grinsen auf und stiefelt geradewegs in die Höhle des Löwen.
Wie in Trance
Aber im FBI-Büro nimmt niemand von dem Verbrecher, den man seit Jahren fieberhaft sucht, Notiz. In aller Seelenruhe kann sich Dillinger Fotos und Akten anschauen, sich mit dem Stand der Dinge vertraut machen. Er weiß jetzt, dass seine Zeit gezählt und er nur noch ein Toter auf Abruf ist. Aber es stört ihn nicht. Wie in Trance verlässt er das Organisationszentrum seines eigenen Untergangs und tänzelt hinaus, um die tödliche Kugel zu erwarten. Diese kleine Szene ist der Anfang vom Ende eines Films, der erst zum Schluss mehr ist als ein Action-Thriller mit blutigen Verfolgungsjagden und einem vorhersehbaren (weil historisch vorgegebenen) Finale.
Über weite Strecken ist "Public Enemies" einfach nur ein Duell zweier Männer, die von Kultregisseur Michael Mann ("Miami Vice") nicht eben sympathisch gezeichnet werden. Hier Johnny Depp als ewig gejagter John Dillinger, dort Christian Bale als verbissener Jäger und kaltherziger FBI-Polizist Melvin Purvis. Im Grunde sind beide aus dem gleichen Holz geschnitzt, sie haben beide keine Werte und keine Geschichte: Es sind zeitlos Getriebene. Und das macht den Film so ambivalent. Denn es wird zwar alles daran gesetzt, das historische Dekor, die Autos, die Kleidung, die Musik der 30er Jahre zu rekonstruieren. Von dem, was die Gesellschaft damals bewegte, von den sozialen Abgründen der Wirtschaftskrise und der nahenden Katastrophe des Krieges, erfahren wir nichts.
Warum auch: Denn Dillinger und Purvis sind nicht als konkrete Menschen, sondern als zeitlose Archetypen von Interesse. Nur wenn es für Dillinger ans Sterben geht, darf er für einen kurzen Moment Mensch aus Fleisch und Blut werden und dem sich über ihn beugenden Polizisten eine Botschaft für seine im Knast sitzende Freundin Billie (Marion Cotillard) ins Ohr flüstern: "Bye, bye Blackbird".
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