Mannheim. Nein, er ist beileibe nicht „Zu alt für Rock ‘n’ Roll“, wie es in einem der markantesten Jethro-Tull-Songs schlechthin heißt. Im August ist Ian Anderson, Gründer, Flötist, Sänger, Komponist, kurzum: Kopf, Herz und Aushängeschild der britischen Rockband, 75 Jahre alt geworden. Und er tritt beim Konzert im größtenteils gefüllten Mannheimer Rosengarten nicht nur selbst bemerkenswert dynamisch in Erscheinung, ihm gelingt es obendrein, magische Musikmomente der Vergangenheit voller Lebensfülle ins Jetzt zu führen.
Rock und Folk im Einklang
Jethro Tull waren immer schon eine Ausnahmeerscheinung. Die Stimme und das Flötenspiel von Anderson (wie auch die grandiose Gitarre des 2012 verstorbenen Martin Barre) formten einen einzigartigen Sound, der auf wundersam fesselnde Weise die Welten von Rock und Folk transzendierte. Das Tour-Programm der Band, die vor 55 Jahren im englischen Blackpool gegründet wurde und 1968 erstmals unter dem Namen Jethro Tull auftrat, widmet sich nun dezidiert den „Prog Years“ – legt also den Fokus eindeutig auf die Progressive-Rock-Zeiten und -Schöpfungen der Gruppe. Wobei auch Stücke aus der Folk-Rock-Ära (wie das famose „Songs From The Wood“) ihren Weg ins Programm gefunden haben; ebenso wie zwei Titel des jüngsten, im Januar veröffentlichten Langspielers „Zealot Gene“, die sich ziemlich nahtlos ins Abend-Œuvre einreihen. Im nächsten April, kündigt Anderson an, soll ein neues Album erscheinen. Gitarrist Joe Parrish-James, Keyboarder John O’Hara, Schlagzeuger Scott Hammond und Bassist David Goodier bilden die aktuelle Bandbesetzung.
Agile Bühnenpräsenz
Wer Anderson in jüngerer Vergangenheit live erlebt oder seine Biografie verfolgt hat, weiß es bereits: Auch wenn seine Stimme ihre Charakteristik bewahrt hat, ist sie doch nicht mehr die der früheren Jahre – höhere Töne fallen ihm schwer, allenthalben wird er im Co-Gesang von den Bandmitgliedern begleitet.
2020 hatte er zudem in einem Interview erklärt, an der chronisch obstruktiven Lungenerkrankung (COPD) zu leiden. Seine überaus agile Bühnenpräsenz, seinen pointierten Humor und die furiose Beherrschung seines Instrumentes ficht das indes nicht an.
Die flatternd überblasene Querflöte, die flirrend wirbelnden Läufe, das Mitsingen und -phrasieren der gegriffenen Töne, die abgedämpften Noten: All das fasziniert wie eh und je. Anderson nutzt die gesamte Bühnenbreite als Bewegungsraum, und oft steht er beim Flötenspiel in seiner ikonischen Haltung nur auf dem rechten Bein, das andere abgewinkelt.
Der Frontmann und seine – exzellent aufspielende – Band reisen mit „Dharma For One“ bis zurück in die 1968er-Anfangstage, reichern den folkigen Klassiker „Living In The Past“ mit zusätzlicher Rock-Energie an, spielen ein großartiges „Clasp“ und liefern mit „Black Sunday“ nachgerade eine Paradebeispiel für die vielfältige Formensprache des Progressive Rock.
Auch die legendäre Bach-Adaption „Bourée“ bleiben Jethro Tull nicht schuldig, die in der zweiten Hälfte mit den Band-Meilensteinen „Too Old For Rock ‘n’ Roll: Too Young To Die“, „Songs From The Wood“, „Aqualung“ und schließlich „Locomotive Breath“ in der Zugabe ein erinnerungswürdiges Konzerterlebnis vollenden.
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