Mannheim. Jennifer Weist, die ehemalige Frontfrau der Rockband „Jennifer Rostock“, präsentiert sich bei ihrer Lesung samt Akustikkonzert so, wie man sie kennt: laut, ungefiltert und nackt. Die Sängerin, die inzwischen unter dem Künstlernamen „Yeanniver“ auftritt, macht keinen Hehl daraus, dass Nacktheit für sie mehr als nur ein äußeres Merkmal ist – sie ist Ausdruck ihrer Haltung und ihres Selbstverständnisses. „Im klitzekleinen Höschen, so kennt ihr mich“, scherzt Weist zu Beginn ihres Auftritts in der Alten Feuerwache. Mit provokantem Charme und viel Selbstbewusstsein eröffnet sie den Abend, unterstützt von einem der größten Hits der Deutschrock-Band, „Kopf oder Zahl“. Auch ohne ihre ehemaligen Bandkollegen steht sie souverän auf der Bühne – frech, direkt und energiegeladen wie eh und je.
Doch schnell wird klar: An diesem Abend geht es nicht nur um das Äußere, sondern vor allem um emotionale Offenheit. In ihrer Autobiografie „Nackt“ gewährt die Sängerin tiefe Einblicke in ihre Seele, spricht offen und schonungslos über die sexistische Musikindustrie, das Leben als Frau und die oft alltäglichen Erfahrungen von sexualisierter Gewalt. Ihre ungeschönten, nahbaren Schilderungen verwebt sie gekonnt mit Songs aus ihrer Karriere – von den ersten Schritten bis heute.
Besonders bewegend ist der Moment, als sie von dem sexuellen Missbrauch erzählt, den sie im Alter von fünf Jahren erleben musste – eine Erinnerung, die lange Zeit in ihr verborgen war und die sie im Song „Seebrücke“ verarbeitet hat. Offen und ehrlich teilt sie diesen Teil ihrer Geschichte mit dem Publikum und schafft so einen Moment tiefer Verbundenheit im Saal. Trotz der Schwere des Themas gelingt es ihr, den Schmerz nicht in den Mittelpunkt zu stellen, sondern mit Haltung und Stärke zu erzählen.
Mit viel Humor und Ironie nimmt Weist die Zuhörer mit in ihre Jugend in den Neunzigern – zu dünnen Augenbrauen, einem (heute gecoverten) Arschgeweih und dem Aufwachsen in einer Ostseestadt zwischen Armut, Drogen und Rechtsextremismus. Zinnowitz – so klein der Ort, so groß die Themen, die sie bis heute bewegen. Sie nutzt ihre Stimme, um auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam zu machen und trägt ihre politische und gesellschaftliche Meinung offen nach außen: „Ich bin Kifferin, ich bin Feministin und ich bin linksversifft“, fasst sie zusammen. Dabei kann und möchte sie nicht perfekt sein. Offen erzählt sie von eigenen Fehlern, Übergriffigkeit und Selbstzweifeln.
Jennifer Weist steht heute als reflektierte, starke und selbstbewusste Frau vor ihrem Publikum. Mit „Nackt“ habe sie sich verletzlicher gemacht als mit jedem Song zuvor, sagt sie selbst. Das Schreiben habe sie radikal zu sich selbst geführt. Was manche als negativ sehen, trägt sie mit Stolz: „Das Radikalste, was wir in unserer Gesellschaft tun können, ist uns zu lieben, wie wir sind.“
Das Publikum dankt mit begeistertem Applaus, stillem Mitfühlen und ehrlicher Anteilnahme. Jennifer Weist gelingt es, laut und leise, kompromisslos ehrlich und zutiefst menschlich zu sein – ein Abend, der unter die Haut geht und noch lange nachwirkt.
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