Journal - Lichtspielhäuser kämpfen mit schwindendem Besucherinteresse – warum sie ihre Bedeutung verlieren

Ist das Kino ein magischer Ort?

Von 
Tilmann P. Gangloff
Lesedauer: 
Ein kleiner Junge sieht einen Cartoon im Kino. Für viele Kinder ist das Kino ein mystischer Ort, bei dem das Außergewöhnliche zu sehen ist. © istock

100 Millionen verkaufte Eintrittskarten: Das klingt zunächst imposant. Doch die Zahl täuscht: Die Deutschen sind Kinomuffel geworden. Während das vergangene Kinojahr in anderen Ländern für Rekordumsätze gesorgt hat, war hierzulande jeder Einwohner im Schnitt nur 1,3 mal in einem Filmtheater; Deutschland ist damit Schlusslicht in Europa. Die Kinobranche erklärt das mangelnde Interesse mit Fußball-WM und Jahrhundertsommer, aber in Frankreich war auch schönes Wetter, und das Land ist sogar Weltmeister geworden; trotzdem war der durchschnittliche Franzose doppelt so oft im Kino.

Problem teilweise hausgemacht

Tatsächlich ist der hiesige Bedeutungsverlust des Kinos zum Teil hausgemacht. Einer der Gründe ist der Verlust der Kinokultur. Der aus Konstanz stammende Regisseur Douglas Wolfsperger hat diesem Phänomen seinen jüngsten Film gewidmet, „Scala Adieu“ (Bundesstart: 21. März). Der Titelzusatz „Von Windeln verweht“ deutet an, worum es geht: Das beinahe 80 Jahre alte Scala-Kino im Konstanzer Stadtzentrum musste einem Drogeriemarkt weichen. Wolfspergers Dokumentarfilm ist jedoch mehr als nur ein Abgesang mit lokalem Charakter. Das Scala, in dem er einst die Osterbeichte schwänzte, weil er lieber den neuen Film mit Louis de Funès sehen wollte, steht für all jene Traditionshäuser, die beim Wettbewerb mit den modernen Multiplexzentren den Kürzeren gezogen haben. Ähnlich wie Wolfsperger haben Filmfreunde im ganzen Land ein Stück Kindheit verloren.

Ein zweiter Grund für den derzeitigen Abschwung erinnert an die Fünfzigerjahre, als den Filmtheatern neue Konkurrenz durch das „Pantoffelkino“ erwuchs; damals musste man nicht mehr ins Kino gehen, um bewegte Bilder zu erleben. Seit einiger Zeit heißt die Devise für viele namhafte Hollywood-Regisseure „Fernsehen ist das neue Kino“, weil gerade im Serienbereich hochinteressante Produktionen entstehen.

Längst trumpfen Streaming-Dienste wie Netflix und Amazon auch mit deutschen Serien auf; für „Dark“ (Netflix) und „Beat“ (Amazon) gab es gar den Grimme-Preis. Diese Produktionen genießen gerade bei jungen Zuschauern einen besonderen Status. Die 20- bis 29-Jährigen bilden traditionell die Kernklientel des Kinos; in keiner Altersgruppe ist der Besucherrückgang so groß wie bei ihnen, denen der Gang ins Lichtspielhaus zudem auch oft zu teuer ist.

Die Serien stoßen auch deshalb auf großes Interesse, weil viele Filme zunehmend einfallsloser werden. Da sich die großen Hollywood-Produktionen längst jenseits der 200-Millionen-Dollar-Marke bewegen, muss das Risiko eines Flops so weit wie möglich minimiert werden. Deshalb wird das Kino mittlerweile von wenigen Marken dominiert: „Star Wars“, „Harry Potter“, „X-Men“, „Avengers“, „Justice League“ (Superman, Batman, Wonder Woman).

Branche demonstriert Zuversicht

Weil die Geschichten inhaltlich kaum noch überraschen, wird der Aufwand immer größer und teurer, wodurch das finanzielle Risiko steigt. Ein Teufelskreis. Hinzu kommt ein Verlust der Mitte. Früher bot der Kinomarkt eine gewisse Bandbreite. Heute laufen, überspitzt formuliert, nur noch Hollywood-Blockbuster und ein paar Arthaus-Produktionen. Es fehlen Filme, die auch ein durchschnittlich anspruchsvolles Publikum ansprechen. Das erklärt möglicherweise, warum der Umsatzrückgang bei Programmkinos, deren Angebot ja nicht nur Cineasten ansprechen soll, überproportional groß ist.

Die Branche gibt sich zuversichtlich. Alfred Holighaus, Chef der Spitzenorganisation der Filmwirtschaft (Spio), sieht in den rückläufigen Besucherzahlen „keinen Anlass für kulturpessimistischen Fatalismus“, im Gegenteil: „In einer Zeit und in einem Land, da die Kinos in den Städten und in der Fläche oft die einzigen funktionierenden Angebote für Kultur und Kommunikation jenseits von Echokammern und Chat-Räumen sind, gewinnen sie an kultur- und gesellschaftspolitischer Relevanz. Sie sind Alternativen zur Vereinsamung und Vereindeutigung.“

Holighaus appelliert an die Filmtheaterbesitzer, dies auch „offensiv zu bewerben und zu beweisen: mit neuen programmatischen Ideen sowie mit Offensiven in technologischer und kommunikativer Hinsicht – gern auch mit Unterstützung der Politik.“ Martin Turowski, Vorstand des Hauptverbands Deutscher Filmtheater (HDF), lässt sich seine Zuversicht ebenfalls nicht nehmen: „Ich bin überzeugt, dass Kinos auch in Zeiten von Netflix eine besondere Anziehungskraft ausüben. Sich bewusst für einen Film zu entscheiden, ihn auf einer großen Leinwand zu erleben und gemeinsam mit anderen Zuschauern zu lachen und zu weinen: Das gibt es nur im Kino! Wir sind ein Kultur- und Kommunikationsort, der Menschen mit anderen Lebenswelten und Perspektiven vertraut macht und den Zusammenhalt unserer Gesellschaft fördert.“

Der Abschwung in Zahlen

  • Der Umsatz, den die deutschen Kinos 2018 mit dem Verkauf von Eintrittskarten erzielten, lag zum ersten Mal seit 2014 wieder unter einer Milliarde Euro (899,3 Millionen Euro).
  • Der Rückgang gegenüber dem Rekordjahr 2015 beträgt 30 Prozent. Damals hatten vier Filme über 6 Millionen Besucher.
  • 2018 kamen überhaupt nur zwei Produktionen auf mehr als 3 Millionen Zuschauer: „Avengers: Infinity War“ und „Phantastische Tierwesen: Grindelwalds Verbrechen“.
  • Betroffen sind nicht zuletzt die vor einigen Jahren noch als Heilsbringer gefeierten 3D-Filme.
  • Der Abschwung trifft auch die deutschen Filme, von denen kein einziger über 2 Millionen Besucher hatte.
  • Netflix trägt an der Kinokrise übrigens keine Schuld: Laut einer Studie der Filmförderungsanstalt gehen die Abonnenten des Streaming-Dienstes gern und oft ins Kino.

Freier Autor

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen