Mannheim. In der wieder ausverkauften Alten Feuerwache wird man Zeuge eines echten Gipfeltreffens zweier führender „Propheten der Vergangenheit“, wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel die Historiker einmal genannt hat. Diese visionäre Dimension im Deuten der Geschichte macht sich bei Christopher Clark (geboren 1960) und Frank Trentmann (Jahrgang 1965) auch sofort bemerkbar. Trentmann lehrt in London, Clark - so oft er auch im deutschen Fernsehen zu sehen ist - in Cambridge. Und die geografische Distanz tut gut, erhöht die intellektuelle Fernsicht auf die Angelegenheiten auf dem Kontinent.
Die beiden sind befreundet, duzen sich bei ihrer Mannheimer Begegnung. Und sie sind auch beide unverbesserliche Dickbrettbohrer. Ihre Bücher, die sich häufig zu Epochen-Panoramen auswachsen, führen Regalböden an die Belastungsgrenze. Clark etwa hat sich in seinem jüngsten Großwerk dem „Frühling der Revolution“ genähert, auf 1168 Seiten schildert er „Europa 1848/49 und den Kampf für eine neue Welt“.
Doch dieser „Frühling“ wurde lange Zeit, vor allem hierzulande, eher als ein deutscher Herbst gesehen. Als ein Dokument, ja Monument des komplizierten Scheiterns, wie Clark in der Feuerwache sagt. Er fügt freilich sofort hinzu, dass „1848“ bei genauerer Betrachtung „keine Misserfolgsgeschichte“ sei.
Nationalismus ist wie Heroin
Der aus Australien stammende Vergangenheits-Prophet aus Cambridge nennt etwa die vielen Staatsverfassungen, die damals auf den Weg gebracht wurden, die in der Schweiz sei in den wesentlichen Punkten heute noch in Kraft.
Doch Christopher Clark, von Trentmann sozusagen interviewt, verschweigt die Defizite keineswegs. Bedauert, dass der „Kampf für eine neue Welt“ oft durch den Kampf für einen Nationalstaat überlagert worden sei. Er sagt sogar: „Nationalismus ist wie Heroin.“ Soll heißen: ungesund bis tödlich für das Freiheitsstreben.
Auch Frank Trentmann, der in Hamburg auf die Welt gekommen ist, aber sein Deutsch inzwischen schon mit einem leichten englischen Akzent versieht, weiß einprägsame Sätze einzustreuen, wie: „Moral gibt es nicht nur in Deutschland.“ Aber hier scheint es doch mehr davon als anderswo zu geben, und den Ursachen dafür geht der Historiker in „Aufbruch des Gewissens“ nach. Auf 1036 Seiten.
Clark nennt Trentmanns Buch „eine Moralgeschichte“ und „eine Biografie einer Nation“. Es fragt, fast à la Nietzsche: „Wie sind wir geworden, was wir sind?“ Den Ausgangspunkt sieht Trentmann nicht in der berühmten „Stunde Null“, sondern schon ein paar Jahre früher, in der Schlacht um Stalingrad. Der deutsche Untergang stand vor der Tür. Nun musste man die unbequemen Fragen über die moralische Verantwortung des Einzelnen an sich heranlassen.
Keine „Friedensmacht“ mehr?
So wurde die „Vergangenheitsbewältigung“ zur Staatsraison - laut Trentmann sei sie fast zu sehr zum „öffentlichen Ritual“ geworden, wie er sagt. Und jede Diskussion, selbst die über die Schuldenbremse, sei in diesem Land moralisch (oder doch „nur“ ideologisch?) aufgeladen. Clark fragt Trentmann, wie die aktuelle Lage sei.
Die Antwort wirkt durchaus besorgt: Alte Gewissheiten, zum Beispiel das Bewusstsein, eine „Friedensmacht“ zu sein, wirkten fragil. „Zivilität“ gehe verloren. Anders ausgedrückt: Das Weltklima wird wärmer, das Debattenklima dafür deutlich rauer.
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