Mannheim. „Sekundenglück“, heißt sein aktueller Radiodauerbrenner. In Mannheim hat Herbert Grönemeyer fast drei Stunden lang Glücksmomente abgeliefert: Bei seinem bislang dritten Konzert in der ausverkauften SAP Arena riss er die 11 000 Zuschauer wieder mit vollem Stimm- und unerschrockenem Körpereinsatz mit. Neben seinen effektvoll platzierten Superhits wie „Bochum“, „Männer“, „Was soll das“, „Mensch“, „Alkohol“, „Der Weg“, dem wieder grandios angejazzten „Flugzeuge im Bauch“, „Musik nur wenn sie laut ist“ oder „Kinder an die Macht“ stand fast das komplette aktuelle Album „Tumult“ im Mittelpunkt des Konzerts.
Darauf bezieht der 62-Jährige mehrfach Stellung gegen Intoleranz, Rassismus und „dumme Sprüche von Rechts“ - glasklar, aber unaufgeregt und ohne allzu massiv erhobenen Zeigefinger. Vor dem munter beschwingten „Taufrisch“ erinnert er uns als Gesellschaft an die Verantwortung,Haltung zu zeigen - und zwar „lässig, lustvoll und mit Spaß!“ Nur in „Fall der Fälle“ wird das zur Dampfhammer-Parole: „Kein Millimeter nach Rechts!“ Auch dafür bekommen der Deutschrock-Altmeister und seine nach wie vor wuchtige Band um den Mannheimer Keyboarder Alfred Kritzer Applaus, der immer wieder fast tumultartig ausfällt.
In punkto Stimmung sind Grönemeyer-Auftritte ohnehin kaum vergleichbar: Denn was ihm schon beim inbrünstig mitgesungenen ersten Lied „Sekundenglück“ und dem minutenlangen Applaus danach entgegenschlägt, ist mehr als Begeisterung. Das ist Liebe. Das Publikum liebt diesen röhrenden, eigenwillig poetischen Superstar, weil er ihm seit Jahrzehnten aus dem Herzen und der Seele singt - sei es über große Gefühle wie Liebe und Verlust oder über politisches Unbehagen.
Nie war das deutlicher zu spüren, als Zehntausende wie 2003 im Ludwigshafener Südweststadion den vom Tod seiner Frau Anna und des Bruders Wilhelm tief getroffenen Sänger auf den Tourneen zu „Mensch“ kollektiv in die Arme nahmen. Spätestens mit der Platte „Tumult“ und dieser Tournee zahlt dieser in jeder Hinsicht verlässliche Künstler mit dem scheinbar unbeirrbaren Stimmungskompass zurück , liefert das politischste und beste Material seit Jahren ab. Das hilft seinen Zuhörern offensichtlich bei der Selbstvergewisserung. Mit der Erkenntnis, dass nicht alle Deutschen ihr superreiches Land von Abgründen umzingelt sehen. Symptomatisch sind da Zeilen voller Selbstüberzeugung wie „Und immer wenn dich der Kummer bricht, Leg’ ich beide Arme einfach stark um dich.“ Ein Grönemeyer in der Brandung...
Aber das ist weder ein Parteitag, ein hochreflexiver Kabarettabend noch ein überdimensioniertes Motivationstraining, hier geht es meist um vor Energie strotzende Volksmusik im besten Sinne, die laut und oft bemerkenswert schön mitgeschmettert, gefeiert und betanzt wird. Was den ohnehin von der Begeisterung völlig berauschten Hauptdarsteller noch mehr entzückt. Um alles noch mehr hochzuschaukeln, lässt er nicht nur die Hüften und den rundlicher gewordenen Bauch kreisen, sondern macht seinem Enthusiasmus mit einer Becker-Faust nach der anderen Luft, gegen die das Original wie ein lascher Netzroller wirkt. Frappierend sind dabei die Dynamikwechsel in der exzellenten Konzertdramaturgie: Wenn zum Beispiel das schwer rockende „Vollmond“ mit einem mitreißen Stephan-Zobeley-Gitarrensolo den ersten Ausflug in die 80er-Jahre-Hitparade auf die Spitze treibt, könnte der Kontrast zur wohlig-warmen Ballade „Mein Lebensstrahlen“ kaum größer sein. Vom wunderschönen „Warum“ und vor allem der Trauerhymne „Der Weg“ gar nicht zu reden, bei dem selbst DSDS-Kandidaten im Teenager-Alter in die Schlagzeilen kommen, weil sie das Lied erstmal nur tränenüberströmt über die Lippen bringen. Bei so viel fast heiligem Ernst ist es wohltuend, dass Grönemeyer sich selbst von Tournee zu Tournee immer mehr auf die Schippe nimmt und in der Arena mehr Lacher produziert als Mario Barth.
Das Publikum ist auf Augenhöhe, auch als Quasi-Duettpartner. Selbst bei live eher selten gehörten Titeln wie „Fisch im Netz“ aus dem Jahr 1993 erweist sich ein Großteil als textfest. Aufgeschlossen für Rhythmen aus aller Herren Länder ist man ohnehin, die Grönemeyers versierte Musiker gerne liefern. So wird auch die rasante deutsch-türkische Nummer „Doppelherz / Iki Gönlum“ zu einem Glanzlicht, bei dem der Berliner R&B-Sänger BRKN nach dem Vorprogramm seinen zweiten starken Auftritt neben Herbert Grönemeyer hat. Nach drei Zugaben und satten 32 Stücken reißt sich der Wahl-Berliner mit den ganz ruhigen Tönen von „Feuerlicht“ und „Immerfort“ von seinen Fans los, die das „Sekundenglück“ in Serie noch viel länger hätten ausdehnen mögen.
Das Programm
- Hauptteil: 1. Sekundenglück (2018), 2. Bist du da (2018), 3. Und immer (2018), 4. Kopf hoch, tanzen (2007), 5. Taufrisch (2018), 6. Steigerlied / Bochum (1984), 7. Männer (1984), 8. Was soll das (1988), 9. Vollmond (1988), 10. Mein Lebensstrahlen (2018), 11. Halt mich (1988), 12. Stück vom Himmel (2007), 13. Doppelherz / Iki Gönlüm (2018, mit BRKN), 14. Fisch im Netz (1993), 15. Fall der Fälle (2018), 16. Mensch (2002), 17. Alkohol (1984), 18. Bleibt alles anders (1998), 19. Der Held (2018), 20. Morgen (2014).
- Erste Zugabe: 21. Der Weg (2002), 22. Flugzeuge im Bauch (1984), 23. Musik nur, wenn sie laut ist (1983).
- Zweite Zugabe: 24. Oh wie ist das schön (Comedian Quartett, 1951), 25. Land unter (1993), 26. Demo (Letzter Tag) (2002), 27. Zeit, dass sich was dreht (2006).
- Dritte Zugabe: 28. Warum (2018), 29. Lebe mit mir los (2018), 30. Kinder an die Macht (1986), 31. Feuerlicht (2014), 32. Immerfort (2018).
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