Stuttgart. Kaum merklich ist die Abweichung der Dauer. Dreieinhalb Stunden hier, dort fast vier Stunden. Doch der Unterschied zwischen dem 2017 in Paris uraufgeführten Werk „Vögel“ des frankokanadischen Regisseurs Wajdi Mouawad und der Neubearbeitung von Aischylos’ Tragödientrilogie „Orestie“ durch den britischen Theatermacher Robert Icke könnte größer nicht sein.
In beiden Stücken epischen Ausmaßes, die den Premierenmarathon der neuen Spielzeit unter dem von Mannheim nach Stuttgart gewechselten neuen Intendanten Burkhard C. Kosminski am Staatsschauspiel eröffnen, steht die Familie im Zentrum. Doch während Kosminski mit seiner Inszenierung von „Vögel“ ein packendes Stück Zeitgeschichte im Heute gelingt, dehnt sich das mühevoll in die Gegenwart gehievte antike Drama unter Ickes Regie in eine langatmige Veranstaltung.
Vor dem Hintergrund des Nahost-Konflikts erzählt Mouawads Drama von der Liebe zwischen dem jüdischen Berliner Studenten Eitan und der US-amerikanischen Araberin Wahida, die innerhalb Eitans Familie für Sprengstoff sorgt. Kosminski zeigt in der deutschsprachigen Erstaufführung, dass es ihm auch an seiner neuen Wirkungsstätte um das Theater als Plattform für politische Auseinandersetzung geht. Auf der Bühne, auf der weiße Papierwände für die Fragilität der Lebensentwürfe stehen, verdichtet er die Handlung um Herkunft, Religion, Generationenkonflikt, Terror und Tod zwischen Weltpolitik und persönlichen Schicksalen.
Menschlicher Wahnsinn
Die Frage nach der Identität steht hier ebenso stets im Raum, wie jene nach Freund, Feind oder dem Wert des Menschen, ohne Ansehen seines Ursprungs. Mit einem Rundumschlag über Palästina, Israel, Schoah, Kommunismus und DDR ist das Stück zwar breit und textlastig angelegt. Und auch in der Inszenierung gibt es Längen. Doch lebt diese auch von den konfliktreichen Dialogen, bei denen der Fokus auf dem international besetzten, auf Deutsch, Englisch, Arabisch und Hebräisch sprechenden Ensemble liegt.
Intensiv, mitreißend, engagiert und lebensecht erzählen die Darsteller den menschlichen Wahnsinn, bei dem sich das Warum in den Vordergrund drängt. Amina Merai besticht als vielschichtige Wahida, Martin Bruchmann überzeugt als verliebter Biogenetiker Eitan. Seine Mutter (Silke Bodenbender) und sein Vater (Itay Tiran) leben anschaulich eigene Konflikte und jenen zwischen Tradition und Toleranz aus. Herausragend: Evenia Dodina und Dov Glickman als Großeltern-Gespann mit beißendem Zynismus und herzlicher Güte. Neben poetischen Szenen lässt Kosminski an vielen Stellen den Humor des Stücks sprechen. Zwar bedarf das ständige Mitlesen der Übertitel einiger Anstrengung. Doch nimmt man dies für den Lohn einer erschütternden Authentizität gerne in Kauf.
Ermüdung dagegen schon nach kurzer Zeit beim antiken Drama. Auch hier geht es um Familie und Schicksal. Doch obwohl Icke die Handlung mit Vorgeschichte, endlosen Befragungen auf Video und Rückblenden mit Orest (Peer Oscar Musinowski) als Trauma-Patient in Therapie aufrüstet, passiert außer der Auslöschung der eigenen Sippe wenig. Rückblenden mit unklaren Zeitebenen und Doppelbesetzungen zentraler Figuren (Matthias Leja als Agamemnon und Geliebter Klytämnestras, die von Sylvana Krappatsch gespielt wird) verwirren. Totgeglaubte tauchen wieder auf. Digital angezeigte Todeszeitpunkte und andere imaginäre Zeichen sind fragwürdige Erscheinungen. Außer Leja identifizieren sich die Darsteller nur schwer mit ihren Rollen und gehen damit auf die Nerven.
Ickes Witz ist bemüht. Es wird geschrien, vieldeutig ins Leere geblickt, Stühle und Tische werden geworfen. Gelungen ist die Bühne von Hildegard Bechtler: In einem mit antikisierenden Säulen angedeuteten Amphitheater fällen die sich in Glaswänden spiegelnden Zuschauer das Urteil über Orest. Schade für den Aufwand, der hier betrieben wurde. Und schade für die Zeit, die man hier verbringen musste.
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