Als im Dezember vergangenen Jahres die Schwester meiner Großmutter - und damit die Letzte aus dieser Generation meiner direkten Verwandten - starb, wurde mir bewusst, dass die Generation der „Alten“ nun die meiner Eltern ist. Der Gedanke daran, dass meine Eltern irgendwann nicht mehr auf dieser Welt sein werden, drückt und schmerzt. Doch gibt es für mich einen gewaltigen Trost: meine Schwester. Nicht nur, weil mir durch sie die Familie erhalten bleibt. Sie ist der einzige Mensch auf der Welt, der die Erinnerungen an meine Kindheit teilt - und die Erinnerung an meine Eltern.
Rund zwei Drittel der Kinder in Deutschland wachsen mit einem oder mehreren Geschwistern auf. Geschwisterbeziehungen stehen noch nicht lang im Fokus der Wissenschaft; und wenn, dann beschäftigte sie sich vorrangig mit den Einflüssen von Geburtsrangfolge und Geschwisterzahl auf die Persönlichkeit. Erst seit den 80er Jahren befasst sich die Forschung mit tieferliegenden Prozessen und Wechselwirkungen. Geschwister haben eine ganz besondere Verbindung. Meistens kennt uns außer unseren Eltern niemand so gut wie sie, Geschwisterbeziehungen sind die längsten unseres Lebens. Durch das familiäre Nest, in dem sie gemeinsam aufwachsen, können die Beziehungen eine Intimität erreichen, an die keine andere Beziehung heranreicht. Und sie können - anders als Freundschaften und Liebesbeziehungen - nicht beendet werden, darin ist sich die Geschwisterforschung einig. Das gilt auch für die Menschen, die keinen Kontakt zu ihren Geschwistern haben (wollen). Eines wird sie immer verbinden: Sie teilen rund 50 Prozent ihres Erbguts.
Das Kuchenstück teilen können
Das macht dieses Verhältnis allerdings auch oft nicht einfach, gerade weil wir uns diese Beziehung nicht ausgesucht haben. Typisch für die meisten Geschwisterbeziehungen ist eine tiefe emotionale Ambivalenz. Sie schwanken zwischen Konkurrenzkampf und Liebe, Rivalität und Freundschaft. „Indianer sind entweder auf dem Kriegspfad oder rauchen Friedenspfeife - nur Geschwister können beides“, wird der Dichter Kurt Tucholsky oft zitiert. Abgesehen davon, dass wir den Begriff „Indianer“ aus politischen Gründen nicht mehr verwenden, hat Tucholsky einen Punkt: Geschwister müssen sich die Zuneigung der Eltern teilen, das letzte Kuchenstück, in vielen Familien auch das Zimmer. Dafür sind sie aber auch oft Vorbilder und beste Freundinnen oder Freunde. Im Kindesalter sind sie Spielgefährten, mit denen wir die Welt entdecken. Mit Geschwistern lernen wir, uns zu behaupten, nachzugeben, Kompromisse zu schließen. Das Kuchenstück aufteilen können - das ist eine wichtige Fähigkeit im Leben. Genauso wie die Fähigkeit, zu streiten und sich wieder zu versöhnen. Oft bilden Geschwister unterschiedliche Interessen aus: Findet jedes seine Nische, schwindet die Konkurrenz. Und oft genug sind sie Verbündete. Wird der Bruder oder die Schwester bedroht oder gedemütigt, ist der Beistand sicher.
Gerade im Teenageralter können sowohl die älteren als auch die jüngeren einen zur Weißglut treiben. Sie „leihen“ die Wimperntusche, die nie wieder auftaucht, spielen Klavier, wenn man gerade für eine Klausur lernen muss, sie treten nach, wenn man eh schon mit Selbstwertproblemen kämpft. Aber sie trösten auch bei Liebeskummer, helfen bei den Hausaufgaben, sitzen beim Schulkonzert in der ersten Reihe, sind auf die Erfolge des anderen fast so stolz wie auf die eigenen.
Eltern kann das zur Verzweiflung bringen. Auf die Frage, was sie sich zum Geburtstag wünsche, antwortete meine Mutter regelmäßig: liebe Kinder. Was wir mit einem Augenrollen beantworteten. Geschwister sind eben die, an denen wir uns abarbeiten. Und die, die nach dem Streit einen „Hab dich lieb“-Zettel unter der Tür durch schieben.
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