Schreibwettbewerb "Erzähl mir was" (8)

Gesa

Von 
Hans-Jochen Hüchting
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An jenem Sonntagmorgen tastet Hinnerks Hand wie jedes Mal beim Aufwachen danach, ob Gesa neben ihm liegt. Er ist unruhig, weil er ihren Atem nicht hört, und als er sanft ihren Arm und ihre Wange streichelt, fühlt sie sich kalt an. Leblos sieht er sie liegen, als er die Augen öffnet. Er spürt bei ihr keinen Puls mehr. Viele Minuten braucht er, zu verstehen, was geschehen ist und was er verloren hat.

Er zieht seinen Bademantel an, sucht die Schallplatte mit der Kantate „Erschallet ihr Lieder“ von Bach heraus, die Gesa so sehr liebte, und lauscht der Musik, während er neben ihr auf der Bettkante sitzt. Nach der Musik wird noch genügend Zeit sein, den Arzt für den Totenschein und den Pfarrer für ihre Seele zu rufen. Er weiß, dass die selbstbestimmte Gesa kein von fremder, auch nicht seiner Hilfe abhängiges Leben hätte führen wollen.

Gesa und Hinnerk waren über vierzig Jahren verheiratet und seit ihrer gemeinsamen Zeit in der Grundschule zusammen. Schon dort versuchten sie stets, nebeneinander zu sitzen. Viele Worte brauchten sie nicht füreinander. Ihnen reichten Blicke und ihre gegenseitige Nähe, um sich miteinander zu verständigen und ihre Gedanken zu lesen. „Die gibt es nur im Doppelpack“, sagten alle auf der kleinen Insel Baltrum, die Gesas und Hinnerks Heimat geblieben war und auf der sie als Angestellte der Kurverwaltung ihren Lebensunterhalt verdienten mit der Betreuung der vielen Gäste, die besonders im Sommer die Insel bevölkerten.

Seit vielen Jahren schon galten Gesa und Hinnerk als lebensklug, wortkarg und verschwiegen. So hatte es sich unter den Inselbewohnern herumgesprochen, dass die beiden ein offenes Ohr und meist Rat für alle hatten, die sich in Not oder seelischer Bedrängnis an sie wandten, und dass sie das ihnen Anvertraute bei sich bewahrten. So war nahezu jeder irgendwann einmal bei ihnen gewesen, hatte ihnen sein Inneres offenbart und hatte gestärkt oder getröstet ihr Haus verlassen. So auch Claas und Svenja Ulrichs, deren Sohn Onno viele Monate als vermisst gegolten hatte, bis sein Leichnam auf den Strand einer der Nachbarinseln gespült worden war. In seiner Tasche hatte man sein Handy gefunden, das in einer wasserdichten Hülle funktionstüchtig geblieben war. Auf ihm hatten die, die ihn geborgen hatten, eine nicht abgeschickte Nachricht an seine Eltern gefunden. Die hatte ihnen die grausige Gewissheit gebracht, dass ihr Sohn, der auf dem Festland zur Schule gegangen war, sich in der Vorweihnachtszeit von einem Fischer auf die Insel hatte übersetzen lassen wollen, um mit seinen Eltern den dritten Advent zu feiern. Der Fischer hatte ihn bei Nacht und plötzlich aufkommendem Nebel am dem Watt zugewandten Strand von Baltrum absetzen wollen. In Wahrheit aber hatte er ihn in der Dunkelheit und bei dem dichten Nebel versehentlich auf einer Sandbank aussteigen lassen, die er wohl irrtümlich im Nebel für den Strand der Insel gehalten hatte. Dort war Onno dem auflaufenden Wasser hilflos ausgeliefert gewesen.

Da Gesa und Hinnerk tiefer in viele der Inselbewohner hineingeblickt hatten als jeder andere, grüßten diese sie zwar freundlich, aber beklommen vor Sorge, ihre Gedanken könnten durch wissende Blicke der beiden in die seelischen Nöte zurückgeworfen werden, wegen derer sie bei ihnen gewesen waren. Auch hielten sie respektvoll Abstand, weil sie verschwommen ahnten, dass die beiden einander genug waren. So blieben Gesa und Hinnerk, solange sie nicht Besuch bekamen von Hilfe- oder Ratsuchenden, für sich allein in ihrem Haus am Watt, bei Wanderungen über die Insel oder beim Essen in einem der wenigen Restaurants. Beim Gottesdienst saßen sie in einer der hinteren Reihen der Kirche, hatten oft ihre Hände ineinander gelegt und zeigten ohne Scheu ihr gemeinsames Glück.

Nach außen trägt Hinnerk den Tod seiner Frau mit stummer Fassung. Seltene und scheue Beileidsbekundungen erwidert er nur mit einem ernsten Kopfnicken und wendet sich schnell ab. Bald widmen sich die meisten erleichtert wieder ihren eigenen Angelegenheiten im Vertrauen, Hinnerk habe sich in sein neues Leben ohne Gesa hineingefunden.

Aber Hinnerk leidet darunter, dass seine Augen Gesa vergeblich suchen und seine Hand ins Leere greift, wenn er sie berühren möchte, bis Gesa ihm eines Nachts im Traum erscheint und ihm ein Handy entgegenhält. Vielleicht das von Onno Ulrichs? Er grübelt lange, während er am Strand entlang geht und auf das Meer hinausblickt. Erst als er eines Tages wie schon so oft zuvor vom Heller aus die aufkommende Flut beobachtet, die langsam und unerbittlich die Priele mit Wasser füllt und die Sandbänke überspült, versteht er.

Am nächsten Tag spricht er mit dem Bürgermeister, und einen Monat später überreicht der ihm schweigend eine Urkunde, die Hinnerk erlaubt, andere auf sicherem Weg zum Festland zu führen, Sommergästen den Tier- und Pflanzenreichtum im Watt zu erläutern und sie vor den Gefahren der Flut zu warnen. Fast täglich heften Spaziergänger ihre Blicke auf die kleine Gruppe, die unter seiner Führung weit draußen im Watt durch den Schlick stapft.

Durch das Fenster scheint die sinkende Sonne, als Hinnerk den schwarzen Tee auf die Kandisstückchen gießt, die dabei leise knistern, und einen Schuss flüssige Schlagsahne hinzufügt. Da glaubt er, geblendet vom Licht, durch die Fensterscheibe Gesa zu sehen, die ihn zu sich winkt. Er meint zu verstehen, packt Ölzeug, warme Decken, einen Feldstecher, eine starke Taschenlampe und eine Flasche Korn in einen Seesack. Seine warme Jacke und sein Südwester schützen ihn, als er den Weg zum Hafen einschlägt, wo er sein Boot vertäut hat. Kaum hat er den Motor angeworfen, richtet er den Bug des Bootes zu dem mit einem in den Schlick gerammten Holzpfahl markierten Ende des Priels, der auf das Wattenmeer hinausführt und sich schon mit dem auflaufenden Wasser gefüllt hat. Weit fährt Hinnerk durch den Priel. Der wird breiter, verzweigt sich und verliert sich in der Wasserfläche, aus der nur noch hier und da eine Sandbank herausragt.

Was will er hier? Was sucht er? Er lässt sich nicht beirren, steuert das Boot mit dem Knie, sucht mit dem Feldstecher die Wasserfläche ab und lauscht angestrengt in die Stille des Abends. Da hört er von Ferne ein Geräusch. Es klingt wie ein Rufen. Sein Feldstecher sucht die Quelle des Geräuschs. Da sieht er endlich einen Arm, der sich winkend bewegt. Er steuert auf den Arm zu. Mit der Taschenlampe gibt er Leuchtzeichen. Nun kann er es deutlich hören: Eine Frauenstimme ruft verzweifelt. Dort muss eine Sandbank sein, die noch nicht ganz überspült ist. Als sein Boot auf den Sand aufläuft, sieht er die Gestalt, die sich, schon bis zur Hüfte im Wasser, mühsam auf ihn zu bewegt. Das steigende Wasser hebt den Kiel des Bootes etwas an, so dass er ein Stück weiter auf sie zufahren kann. Die Frau scheint sehr matt und schwach zu sein. Er packt sie unter den Schultern und zieht sie zu sich ins Boot.

Nie hätte Hinnerk sich getraut, eine fremde Frau auszuziehen. Aber jetzt tut er es und hüllt sie in seine warmen Decken. Den Korn nimmt sie gern und lehnt sich an Hinnerk. Der sagt nichts, reibt nur der Frau den Rücken, um sie zu wärmen. Sie wirkt sehr erschöpft und sagt leise „Danke“, bevor sie ihren Kopf an seine Schulter legt. Der Motor brummt laut und treibt das Boot zurück auf die Insel.

Schwer hängt die Frau an Hinnerks Arm, als sie zu seinem Haus gehen. Erst im Licht des Windfangs sieht er ihr Gesicht. Es wirkt müde, aber über den tiefen Schatten strahlen ihn zwei Augen an.

„Dich hat der Himmel geschickt!“, sagt sie.

Hinnerk schüttelt den Kopf.

„Nee“, sagt er. „Nicht der Himmel. Das war Gesa.“

„Gesa?“, fragt sie erstaunt.

Anstatt einer Antwort sagt Hinnerk:

„Ich zeig dir, wo du schlafen kannst.“

Als er am nächsten Morgen das Frühstück für sie beide bereitet, klopft er an die Tür zu dem Zimmer, in dem die Frau wohl noch schläft, und will fragen, ob sie Tee oder Kaffee möchte. Es beunruhigt ihn, dass er keine Antwort bekommt. Leise drückt er die Klinke hinunter. Ihr Atem geht ruhig. Sie liegt so, dass sie ihm ihr Gesicht zuwendet. Es gefällt ihm.

„Wieso hast du gesagt, Gesa habe dich mir geschickt?“, fragt sie beim gemeinsamen Frühstück.

„Nee, anders herum“, antwortet er.

„Wer ist Gesa?“, fragt sie.

Anstatt zu antworten schaut Hinnerk zu dem Foto, das auf dem kleinen Tisch an der Wand steht. Die Frau folgt seinem Blick.

„Ist sie das?“, fragt sie.

Er nickt.

Beide schweigen lange. Dann schauen sie einander an.

Hinnerk legt seine Hand auf den Tisch.

Sie legt ihre darauf.

AUDIO: Gesa von Hans-Jochen Hüchting - Wettbewerb "Erzähl mir was" (8)

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