Liebes Corona-Tagebuch,
liebe Leserinnen und Leser,
man hat in diesen aufgeheizten Zeiten ja die Qual: Zwei wichtige Meldungen innerhalb von 48 Stunden. Welche erhält die verdiente Aufmerksamkeit? Machen wir es einfach zugespitzt personalisiert, so kommt das heute ja besser rüber: Marcel Fratzscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung und Greta Thunberg, Gründerin von Fridays vor Future.
> Antworten - Ihre Meinung: E-Mail an Jagoda Marinic
Fratzscher lenkt das Licht auf neue Forschungsergebnisse seines Instituts: Die Reichsten ein Prozent haben in Deutschland 35 Prozent aller Vermögen und damit so viel wie in den USA. Dabei wird die USA hier immer als Land des harten Kapitalismus beschrieben, während Deutschland sozial sei. Ich empfehle Ihnen ja ständig Branko Milanovic, aber Marcel Fratzscher sollte auf Ihrer Leseliste auch nicht fehlen, falls Sie wenig Zeit haben, folgen Sie ihm auf Twitter. Dort beschreibt Fratzscher die Lage so: „Der Anteil am Volkseinkommen hat sich für die ärmere Hälfte von 33 Prozent in den 1960er Jahren auf heute 17 Prozent fast halbiert.“ Er nennt es „einen wichtigen Grund für die Zunahme der Ungleichheit von Vermögen“.
Ich habe mich oft gefragt, weshalb in den letzten Jahren, seit meiner Kindheit, der Armut die Würde genommen wurde. Ich dokterte, um mir das zu erklären, meist am Bildungssystem herum (sicher auch ein Grund), doch mit diesen Zahlen wird deutlich: Die Ärmeren sind in den letzten Jahrzehnten abgehängt worden. Armut ist in Deutschland weniger relative Armut, obgleich jeder grundsätzlich vom Wohlstand und der Infrastruktur hier profitiert.
Eine der Haupterkenntnisse der Studie: Die Top 0,1 Prozent haben 20 Prozent aller Vermögen – vorher ging man von 7 Prozent aus. Die unteren 50 Prozent hingegen haben 5 Prozent. Leider schlagen solche Meldungen nicht ein. Leider denken weite Teile des Mittelstands, sie stünden mit der Vermögenspolitik der herrschenden Parteien gut da. Ein selbstschädigendes Wahlverhalten vieler, weil weite Teile der Bevölkerung sich selbst ärmer wählen.
„In keinem anderen Land wird Arbeit so stark besteuert, aber Vermögen und Einkommen aus Vermögen so gering besteuert wie in Deutschland“, sagt Fratzscher. In Zeiten der Pandemie kann man es nicht oft genug wiederholen: Die Folgen der Pandemie werden auf den Schultern der arbeitenden Bevölkerung allein nicht zu beheben sein. Je früher hier über Vermögen und Besteuerung gesprochen wird, desto besser für den sozialen Frieden.
Damit habe ich für Greta Thunberg und ihr Anliegen kaum Platz, dabei hat sie mit ihren Mitstreiterinnen einen offenen Brief publiziert, für den sie neben führenden Klimaforschern auch zahlreiche Prominente von Malala bis Leonardo Di Caprio gewinnen konnte. Statt Massendemos und Basisdemokratie versuchen Fridays for Future es nun mit der aristokratischen Form der Demokratie: Prominente for Future. Ich fand die Menschenmassen auf den Straßen weltweit beeindruckender, doch in Corona-Zeiten ist der offene Brief eine kluge Art, das Thema „Ökozid“ wieder auf die Agenda zu setzen. Sie fordern „ein neues System“, statt mit dem alten weiterzumachen. Das mag für manche radikal klingen, doch auch die EU-Vizepräsidentin Margrethe Vestager fordert: „Let´s renew, not rebuild.“
Lasst uns die Welt nach Corona erneuern, nicht einfach wiederaufbauen, lasst uns Abschied nehmen von der Illusion, dass alles gut war und jeder Anfang schwer ist. Das „Weiter so“ könnte viel schwerer werden.
Bleiben Sie gesund!
Jagoda Marinic
Das Tagebuch als Podcast bei Spotify und Deezer.
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/kultur_artikel,-kultur-fratzscher-oder-thunberg-_arid,1663284.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.mannheimer-morgen.dehttps://www2-mannheimer-morgen.morgenweb.de/service/kontakt/index.html?email=a3VsdHVyQG1hbW8uZGU=&name==SmFnb2RhIE1hcmluaWM=