Das neue Buch - Annette Pehnt zeigt in ihrem neuen Erzählband ein Talent für genaue Beobachtungen

Facetten des Schweigens

Von 
Gunter Irmler
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Annette Pehnts Prosa will sich nicht in die konformistische Welt fügen. Ihre Figuren waren immer schon Außenseiter oder lebten am Rande der Gesellschaft. So zeichnete die Freiburger Anglistin in ihrem Roman "Mobbing" die Geschichte der Ausgrenzung eines Familienvaters am Arbeitsplatz nach, die durch die Ignoranz seiner Chefin ausgelöst wird. Jetzt stellt uns die 42-Jährige Facetten des Schweigens vor, auf die auch der Titel ihres Erzählbandes anspielt. Die Menschen darin sind in existenziell zugespitzten oder Furcht auslösenden Lebenslagen. Zudem widmet sich Pehnt der sozialen Realität Ausgegrenzter - den behinderten Kindern.

Von einem Moment zum nächsten wird das Leben einer Familie durch die plötzliche Krankheit der Mutter aus dem Lot gebracht. Eines Morgens stehen Schwester und Bruder irritiert vor Schulbeginn vor der Tatsache: Ihre Mutter ist - wortlos - verschwunden. Überall sehen sie Blutflecken, auf dem Boden in der Küche, im Flur. Das lässt sie staunen, wissen sie doch nicht, was geschehen ist. Erst in der Schule erfahren sie mehr. Die Mutter ist im Krankenhaus. Wann wird sie zurück sein?

Der plötzliche Tod der Mutter stürzt auch die Ich-Erzählerin einer zweiten Erzählung in gefühlte Ohnmacht, als sie in der Klinik eintrifft. "Obwohl ich damit gerechnet habe, wusste ich es nicht und denke: Wie geht das, ich habe das nicht geübt, ich weiß nicht, wie das geht, und auch mein Bruder weiß es nicht." Ein Gesprächsangebot des Pfarrers? Sie lehnt dankend ab. "Aus Worten, sage ich ihm, entsteht meiner Erfahrung nach sehr selten ein Weg, Worte verstellen Wege."

Kinder malen mit dem Fuß

Kommunikative Sperren treiben die Figuren Pehnts in Außenseiterrollen. Als in der Erzählung "Georg" ein Paar ein Baby bekommt, wird die traute Zweisamkeit auf den Kopf gestellt. Hilf- und Sprachlosigkeit drohen die Familie zu zerreißen. Die soziale Wirklichkeit behinderter Kinder erfährt in der Gegenwartsliteratur nicht viel Aufmerksamkeit. Ganz anders bei Pehnt: Manche der Heimkinder in ihrer Erzählung "Wünschen darf man sich alles" können ihren Malstift nicht halten, Artur malt mit dem Fuß, der schon erwachsene Billie hat den Pinsel am Kopf fixiert. Andere Kinder sitzen im Rollstuhl, wie Hannes. Mit Krafttraining nährt er die Hoffnung, sich einmal mit Krücken fortbewegen zu können. Vor unserem inneren Auge entstehen sorgfältig gearbeitete Szenen, die uns mitziehen in die Welt der Kinder und uns ihr Dasein hautnah mit erleben lassen: wie sie musizieren oder werken, sich gegenseitig helfen oder sich triezen.

Pehnt skizziert die Kinder ohne Sentimentalität in nüchternem Stil. Wenn die Autorin die Erzählperspektive auch in weiteren Texten gelegentlich wechselt, bricht sie zwar die konventionelle Dramaturgie. Doch in der Erzählung "Georg" wechselt sie die Erzählperspektive unglücklich und im Übermaß. Sonst überzeugen die mit genauer Beobachtung und sprachlicher Differenzierung gestalteten Texte.

Freier Autor Der Lektor, Literaturkritiker, Literaturwissenschaftler und Journalist Gunter Irmler ist unter anderem für Die Zeit, Die Zeit online, Stuttgarter Zeitung, Stuttgarter Nachrichten und Mannheimer Morgen tätig.

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