Ludwigshafen. Uns durchzuckt ein leiser Schreck: Er meldet sich am Telefon mit „Hier spricht Dr. Caligari!“ – also mit dem Namen einer mehr als zwielichtigen Filmfigur aus einem mehr als 100 Jahre alten Kinoklassiker. Natürlich ist das nur ein kleiner Scherz. Doch seine Neuvertonung von „Das Cabinet des Dr. Caligari“ hat Karl Bartos äußerst ernstgenommen, jahrelang hat der Ex-Kraftwerk-Musiker daran gearbeitet. Die Uraufführung fand im Februar in Frankfurt statt, nun wird das Werk in Kooperation des Internationalen Filmfestivals Mannheim-Heidelberg mit der BASF-Kulturabteilung auch in Ludwigshafen vorgestellt. Der Komponist wirkt daran mit.
Herr Bartos, haben Sie sich auch grundsätzlich mit der dramaturgischen Bedeutung der Musik in alten Stummfilmen befasst?
Karl Bartos: Ja, das mache ich schon lange, seit den Jahren, als ich mich in Düsseldorf mit meinen Kraftwerk-Freunden mit Fritz Langs „Metropolis“ beschäftigt habe. Dadurch landeten wir in der Republik von Weimar. Künstlerisch kann man da eine Menge lernen. Dass die Welt von damals die von heute schon vorweggenommen habe, kann man vielleicht nicht sagen. Doch Vieles hat dort seinen Ursprung.
Für die originale Filmmusik zum „Cabinet des Dr. Caligari“ war Giuseppe Becce zuständig. Sie ist verschollen…
Bartos: Becce war in jener Zeit ein Star. Er hat die sogenannte Kinothek entwickelt, Repertoire aus Oper, Operette und sinfonischer Musik durchforstet, einiges davon herausgeschrieben und nach Stil-Abteilungen sortiert, etwa nach Liebes- und Naturszenen. Fast, wie es heutzutage in den Klangbibliotheken läuft.
Eine Art Baukastenprinzip. Gibt es vielleicht sogar Berührungspunkte zu der Art und Weise, wie Sie selbst vorgehen?
Bartos: Nein. Ich bin zunächst sehr „handwerklich“ verfahren, habe meine Filmvorlage sorgfältig analysiert, in Abschnitte gegliedert und so weiter. Eine Frage hat mich auch immer beschäftigt: Wie klingt eigentlich das Böse? Und die Antwort ist: Auch böse Menschen haben Lieder. Wie empfindet so ein Scheusal, wie es Dr. Caligari ist? Man muss da nicht zwangsläufig Dissonanzen einsetzen. Für ihn kann eine Schreckenstat wie eine Art Erlösung sein.
„Hineinzoomen in jede Filmsekunde“ wollen Sie, haben Sie mal erklärt. Heißt das, dass keine Filmsekunde unvertont bleibt?
Bartos: Nein, auch Stille sagt manchmal viel aus, und wenn man eine Partitur betrachtet, gibt es dort die grafischen Symbole für die Töne. Aber Zeichen für die Stille gibt es eben auch, das heißt dann „Pause“. Ohne Stille geht es gar nicht.
Neben der Musik hört man bei Ihnen „Originalgeräusche“. Woher kommen die im Stummfilm?
Bartos (simuliert am Telefon solche Geräusche durch ein Klopfen, Pochen oder Rauschen): Hören Sie? Diese Geräusche prägen unser Leben. Damals wurden sie nicht aufgenommen, sondern von den Bildern abgetrennt. Ich habe sie nun so naturgetreu wie möglich nacherzählt. Die Kunst ahmt ja das Leben nach. Per se.
Und der Orchesterklang ist vollsynthetisch?
Bartos: Ja, was den expressionistischen, gemalten Filmkulissen adäquat ist. Übrigens lässt sich ein großes Sinfonieorchester generell niemals kopieren. Aber seinen Geist wollte ich wiedergeben.
Haben Sie den Anspruch, dass Ihre Musik auch losgelöst vom Film Bestand hat?
Bartos: Was heißt Anspruch? Die Musik ist funktional. Als ich gefragt wurde, ob ich auch Tonträger bespielen möchte, habe ich zunächst versucht, zu kürzen, Wiederholungen zu tilgen. Aber letztlich war es doch am überzeugendsten, wenn die Musik so bleibt, wie sie zum Film erzählt wird. Diesen sollte man aber am besten schon einmal gesehen haben.
Immer noch werden Sie als „Ex-Kraftwerk-Musiker“ bezeichnet. Nervt das?
Bartos: Ich bereue nichts und liebe die Musik von Kraftwerk immer noch. Es waren 16 Jahre, das gehört zu meinem Leben. 30 Titel habe ich in jener Zeit geschrieben, diese sind auch heute in Kraftwerk-Konzerten nach wie vor zu hören. Was soll ich da sagen? Manchmal klebt es wie ein Schatten über mir, und manchmal wie ein Sonnenstrahl.
Nachdem Sie weg waren, kam musikalisch nur noch wenig…
Bartos: Coca-Cola muss ja auch nicht jedes Jahr ein neues koffeinhaltiges Kaltgetränk herausbringen. Was dafür sorgt, dass die Musik von Kraftwerk nicht leicht totzukriegen ist, ist aber auch, dass sich in ihr die Kreativität der Bandmitglieder bündelt, Textdichter und Komponisten. Wie es auch im „Cabinet des Dr. Caligari“ ist: Die Kreativität von vielen Menschen kommt zusammen. So entsteht ein epochales Filmkunstwerk.
Und was ist Ihre Kraftwerk-Lieblingsplatte?
Bartos: Also, bei den Beatles hätte ich da keine Schwierigkeiten: „Rubber Soul“, „Revolver“, „Sgt. Pepper“. Und bei Kraftwerk? Vielleicht „Trans Europa Express“, „Die Mensch-Maschine“ und „Computerwelt“.
Mit Elektronik in die Ruhmeshalle
Dass Karl Bartos (Jahrgang 1952) Kraftwerk fast in einem Atemzug mit den Beatles nennt, macht Sinn: Die deutsche Elektronikband hat die Popmusik zutiefst geprägt, sie wurde aufgenommen in die „Hall of Fame“ des Rock’n’Roll.
Bartos trat Kraftwerk 1975 bei – da war zuvor schon „Autobahn“ erschienen. 16 Jahre später nahm er seinen Abschied. Seither ist er Kommunikationsdesigner, Solomusiker, DJ und Produzent.
Die Filmmusik (mit Sounddesign) zum „Cabinet des Dr. Caligari“ wird am Sonntag, 27. Oktober, um 20 Uhr im Feierabendhaus der Ludwigshafener BASF zusammen mit dem originalen Stummfilm aufgeführt. HGF
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