George Orwells bekanntestes Buch wird zugleich sein letztes. Als der Engländer den Roman „1984“ auf einer schottischen Insel fertig schreibt, ist er bereits schwer an Tuberkulose erkrankt. „Es war ein strahlend kalter Tag im April, und die Uhren schlugen dreizehn“ – mit diesen Worten beginnt er die Geschichte, die vor 75 Jahren erscheint, am 8. Juni 1949. Orwells Roman erzählt von einer dystopischen Zukunft, in der sich eine neue Weltordnung durchgesetzt hat und Krieg herrscht. Der Roman wird mit seiner Beschreibung eines Überwachungsstaats zu einer der bekanntesten Dystopien der Weltliteratur.
Nun ist es wie so oft mit Weltliteratur – man hat davon gehört, aber sie nicht immer unbedingt gelesen oder vielleicht wieder halb vergessen. Sollte man den Roman also doch mal wieder zur Hand nehmen? Und was hat „1984“, dessen Titel damals nach Zukunft klang, aber heute längst Vergangenheit ist, noch zu erzählen? Fragt man den Theaterregisseur Luk Perceval, der die Geschichte gerade am Berliner Ensemble inszeniert hat, dann ist Orwells Geschichte heute vielleicht aktueller denn je. Der Belgier musste das Buch früher in seiner Schulzeit lesen, konnte als Teenager aber wenig damit anfangen. Für ihn sei das damals eher eine Science-Fiction-Geschichte gewesen, sagt der 67-Jährige der Deutschen Presse-Agentur.
„Bespitzelt von unserem eigenen Smartphone“
Geändert habe sich das, als er vor zwei Jahren in Berlin gewesen sei und der Ukrainekrieg angefangen habe. „Und man in der Stadt so eine große Unsicherheit gespürt hat unter den Leuten.“ Man habe eine Zunahme von Kriegsflüchtlingen gesehen, nicht gewusst, wo es hingehe mit der Welt. „Man hat auch gespürt, dass wir uns noch mehr als früher zwischen drei Machtblöcken befinden – dem anglo-amerikanischen Machtblock, dem chinesischen und dem russischen.“ Das entspreche dem Weltbild in „1984“.
„Auf einmal habe ich gedacht: ,Eigentlich ist das der Roman dieser Zeit’. Weil auch wir uns letztlich in einer Zeit befinden, in der wir uns von allen Seiten überwacht fühlen, kontrolliert fühlen von Marketingmechanismen, bespitzelt werden von unserem eigenen Smartphone“, sagt Perceval. Das eigene Konsumverhalten werde genau verfolgt und manipuliert, auch bei Wahlen werde über soziale Medien ausgelotet, welche Tendenz man habe. „Für mich wirkte der Roman dann beim Wiederlesen heutiger denn je.“
Orwell habe in „1984“ die erschreckendste aller Fragen gestellt, schreibt die Direktorin der Orwell Foundation, Jean Seaton, zum nun anstehenden Jubiläum. Könnten Menschen dazu gebracht werden, die Lügen, die ihnen erzählt werden, wirklich zu glauben? Der Roman jedenfalls wurde über die Jahrzehnte immer wieder bemüht, um etwas über den aktuellen Zustand der Welt zu verstehen. Nach der Wahl des damaligen US-Präsidenten Donald Trump zum Beispiel. Oder auch jetzt, wenn es um neue technologische Möglichkeiten geht.
Tatsächlich kann Perceval „1984“ am Ende sogar etwas Positives abgewinnen. Man könne von Orwell lernen, an seine Natur, seine Kreativität und sein Streben nach Freiheit zu glauben. Etwas Hoffnung findet sich tatsächlich auch im Anhang des Buchs. Der deutet an, dass sich in der von Orwell skizzierten Schreckenswelt noch etwas ändert. Es lohnt also, auch die letzten Seiten noch zu lesen, selbst nach 75 Jahren. dpa
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/kultur_artikel,-kultur-ein-wenig-hoffnung-auf-den-letzten-seiten-_arid,2212989.html