„Vielleicht ist ja Familie nichts anderes als ein Gebilde aus Geschichten und Geschichten und Geschichten“, sinniert Peri. „Aber was bedeuten dann die Leerstellen in ihnen, das Schweigen?“ Sind sie die Lücken, die alles am Ende zum Einsturz bringen, oder „die Luft, die wir zum Atmen brauchen, weil die Wahrheit, die ganze Wahrheit, unmöglich zu ertragen wäre?“ Möglicherweise wohnen in diesem Vakuum ja auch die „Dschinns“, die dem Roman von Fatma Aydemir, den Regisseurin Selen Kara in ihrer Bühnenfassung am Mannheimer Nationaltheater uraufführt, den Titel gegeben haben.
Diese mystischen Wesen, deren Namen man nicht nennt, die weder gut noch böse, sondern vielleicht einfach die Geister sind, die wir selbst rufen: Phantom-Spiegelungen von Ängsten und Abgründen. Die, die an den Wegscheiden zu falschen und feigen Entscheidungen warten, damit wir unsere Schuld auf sie laden können.
30 Jahre in Deutschland
Hüseyin hatte sich vor 30 Jahren dafür entschieden, aus der Türkei nach Deutschland zu gehen. Und 30 Jahre arbeitete er dort hart, um sich schließlich den Traum einer Eigentumswohnung in Istanbul zu erfüllen. Kaum dort angekommen, stirbt er, mit 59, an einem Herzinfarkt. Seine Frau Emine (Almut Henkel) und die Kinder Ümit (Yasin Boynuince), Peri (Tala Al-Deen), Sevda (Sascha Özlem Soydan) und Hakan (Arash Nayebbandi) reisen zur Beerdigung an – wir sehen sie eingangs der Premiere in einer Art Familienaufstellung auf der Schauspielhaus-Bühne stehen. Schweigend.
Verspätete Premiere am NTM
- Die Premiere von „Dschinns“ am Nationaltheater (NTM) war ursprünglich für Anfang April geplant, die Uraufführung musste allerdings coronabedingt wiederholt verschoben werden.
- Die Buchvorlage „Dschinns“, erschienen diesen Februar, ist der zweite Roman der Journalistin und Autorin Fatma Aydemir. Nach „Ellbogen“ ist „Dschinns“ zugleich das zweite Stück, das Regisseurin Selen Kara nach einem Werk von Aydemir am NTM inszeniert.
- Die nächste „Dschinns“-Vorstellung findet am Dienstag, 12. Juli, 19 Uhr, im Schauspielhaus statt.
- Selen Kara führte auch Regie bei der NTM-Theatertruck-Produktion „Romeo und Julia“ sowie bei „Istanbul“, 2018 am NTM.
Im Roman sind den Familienmitgliedern jeweils eigene Kapitel gewidmet, in ihrem Stück erschafft Selen Kara ein fluides Amalgam aus Dialogen und Erzählstimmen, wobei die Darstellenden in weitere Rollen schlüpfen. Die Figuren falten sich nacheinander vor dem Publikum auf und werden in den rund 160 Spielminuten vom Ensemble so seelenvoll wie darstellerisch pointiert mit Leben gefüllt: Peri, die Ausbrechende, die einzige der Familie, die studierte, die Simone de Beauvoir und Judith Butler liest. Hakan, der aneckt, der gegen die väterlichen Erwartungen prallt, sich fragen lassen muss: „Wann wirst du endlich ein Mann?“ Emine, deren schweigsame Bitterkeit, Konventionshörigkeit und Mangel an Mitgefühl eine schwärende Wunde verdecken. Ümit, der Jüngste, sensible, der sich in der Beratungsstunde eines Psychologen wiederfindet, der ihn wegen Homosexualität therapieren will. „Es gibt keine Männerliebe, es gibt nur Menschen mit ernstzunehmenden Störungen“, sagt der. Das ist zugleich einer der Momente, in denen die zeitliche Anbindung – das Roman-Geschehen datiert auf 1999 - am spürbarsten ist. Der Rassismus dagegen, mit dem etwa Hakan und Ümit konfrontiert werden, muss, bei allen graduellen Veränderungen, wohl als hässlich beharrliche Konstante betrachtet werden. Sevda ist die stärkste der Figuren, eine Schulbildung wurde ihr vorenthalten, sie wurde früh verheiratet und hat sich darüber mit ihren Elten überworfen.
Wie sie gleichwohl mit unerhörter Kraft und Mut ihr Leben formt, wird von Sascha Özlem Soydan in brillanter Intensität und Tiefenschärfe gespielt. Brillant ist auch, wie hier mit dem Licht, dem Sound und vor allem auch dem famosen modularen Bühnenbild (von Lydia Merkel) gearbeitet wird, um Stimmungen auszukleiden, räumliche und figürliche Perspektivwechsel zu schaffen. Gerade im ersten Teil wird „Dschinns“ mit nachgerade umwerfender szenischer Eleganz und Leichtigkeit des Tons inszeniert, immer wieder blitzt da auch Humor auf, der die eigentliche Schwere des Sujets durchbricht. Und jenes ist im Kern eine sehr universelle Familiengeschichte, wenngleich sie freilich mit den spezifischen Merkmalen und Erfahrungen einer türkisch-kurdischen Biografie erzählt wird.
Gegen Ende wird es ein bisschen voll unter dem „Dschinns“-Dach: Der Handlungsstrang um das (Trans-)Geschwisterkind Ciwan (mit wunderbar entschlossener Sanftheit von Newroz Celik verkörpert), von dem die anderen nichts wussten, wirkt wie eine eingeschmuggelte Konstruktion, und der Showdown zwischen Emine und Sevda weist doch recht melodramatische Züge auf. Aber auch das ändert nichts daran, dass wir überzeugendes Theater erleben.
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