Dunkle Regenwolken hängen am Eröffnungsabend des 36. Heidelberger Stückemarkts über Heidelberg. Und das passt: Leicht wiegen die Themen nicht, mit denen sich zeitgenössisches Theater beschäftigen muss. Denn will es sich am Hier und Heute abarbeiten, dann sind Themen wie Autokratie, Machtmissbrauch oder Individualisierung gefragt. Die Türkei nach 2011 zum zweiten Mal zum Gastland zu wählen, erwies sich in diesem Sinne als gute Entscheidung. Denn was in der Türkei geschieht, kann überall passieren. Das betont Holger Schultze, Intendant des Theater und Orchester Heidelberg, bei der Eröffnung des Stückemarkts. „Die Texte aus der Türkei sind uns nicht so weit entfernt“, sagt er.
Das Theater kann im Kleinen arbeiten, erzählt Gülhan Kadim, Kuratorin für das Gastlandprogramm. In alltäglichen Szenen zeigten sich so tieferlegende Strukturen. Als türkische Künstler frage man sich etwa: Bleibe ich? Gehe ich? Wie kann ich etwas verändern? Darum geht es in den türkischen Stücken, und darum ging es in der Eröffnungspremiere „Drift“ von Ulrike Syha, der Autorensiegerin des Vorjahres.
Geschickt verwebt die ehemalige Mannheimer Hausautorin das Große und das Kleine: Die Globalisierung trifft auf Kaff am Wattenmeer. Doch keine Fortschritts-Idylle ist das, sondern ein sezierender Blick auf eine sich immer weiter fragmentierende Gesellschaft. Den Einzug des Post-Modernen in der gemeinhin als vormodern angesehenen Provinz darzustellen, gelingt Regisseur Gustav Rueb, ohne sich wohlfeiler Dorf-Klischees zu bedienen.
Grandiose Schauspieler
Zwar dominiert auf Peter Lehmanns wunderbarer Bühne eine riesige Spitzen-Gardine, doch durch die schaut niemand durch. Zwar reden die Figuren unentwegt, doch stereotypische Dorf-Tratscherei kommt dabei nicht auf. Vielmehr sind alle mit ihrem eigenen Leid beschäftigt, das die sieben Schauspieler grandios – da mit reichlich ironischer Brechung – darstellen. Denn das ist es ja, die Welt ist nicht mehr wie früher. In „Drift“ hat sich die kleine Welt des Dorfes völlig aus den Angeln gehoben, die Zeit der Gemeinschaft scheint vorbei zu sein. Auf ihrer Suche nach Alternativen werden die Bewohner jedoch nicht fündig. Ein Grund zum Verzagen ist das aber nicht. Antworten gibt es, man muss sie nur finden.
Bei dieser gelungenen Eröffnung des Stückemarkts wird als letzte Tat eine Zigarette ausgedrückt. Das ist ein Ende, aber kein Schluss. Denn wo geraucht wird, folgt der nächste Klimmstängel. Anders gesprochen: Wenn im Theater ein Vorhang fällt, entstehen daraus vielfach neue Impulse – ob in der Türkei, in Deutschland oder am Wattenmeer.
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