Selbst in den digitalen Kinderwelten des 21. Jahrhunderts haben die einst von den Brüdern Grimm gesammelten "Kinder- und Hausmärchen" noch ihren festen Platz. Von nun an aber wird man die Geschichten der Helden und ihrer Begegnungen mit Zwergen und Riesen, Hexen und Feen mit anderen Augen lesen. Vor allem aber weiß man jetzt: Die Märchenwelt ist kein Ort der Fantasie, sondern Wirklichkeit; sie befindet sich hinter den Spiegeln.
Nach der "Tintenwelt"-Trilogie beginnt Cornelia Funke mit "Reckless" einen neuen Zyklus, der hoffentlich mindestens so viele Bücher umfassen wird wie die Abenteuer von Harry Potter. Held der Geschichten ist der Abenteurer Jacob Reckless, und da sein jüngerer Brüder Will heißt, muss man kein Germanist sein, um die Parallelen zu den Brüdern Grimm zu entdecken. Die jungen Männer sind praktisch ohne Vater aufgewachsen, denn den hat es immer wieder in jene Parallelwelt gezogen, die auch Jacob schließlich der unsrigen vorzieht.
Dort hat er sich einen Ruf erarbeitet, wie ihn auf unserer Seite des Spiegels allenfalls Indiana Jones genießt: Dank Jacobs Talent als Schatzsucher lagern in den Kammern der Kaiserin Dutzende von Artefakten, die in den Märchen der Brüder Grimm von entscheidender Bedeutung sind. Einige dieser Gegenstände kommen bei Jacobs jüngster unmöglicher Mission zum Einsatz: In der Spiegelwelt tobt seit langem ein Krieg zwischen den Menschen und den ursprünglich unter der Erde lebenden Steinwesen Goyl. Wen sie mit ihren Klauen verletzen, wird für immer zu einem der Ihren; und dieses Schicksal widerfährt ausgerechnet Jacobs Bruder. Einzig die Dunkle Fee kann Will von diesem Fluch befreien; aber Menschen pflegen eine Begegnung mit ihr nicht zu überleben.
Funkes Buch ist an Spannung kaum zu überbieten. Praktisch jedes der oft nur wenige Seiten langen Kapitel konfrontiert die Helden auf ihrer Reise durch die Märchenwelt mit einer neuen gefährlichen Herausforderung. Immer wieder muss Jacob unzuverlässige Allianzen eingehen, faule Kompromisse schließen und in aussichtslosen Kämpfen sein Leben riskieren; und als er mittendrin stirbt, scheint die Geschichte bereits weit vor dem Schluss zu Ende zu sein.
Das Buch wimmelt zudem nur so von bekannten und neuen Fabelwesen. Von den Anleihen bei den Grimm-Brüdern abgesehen, hat Funke gemeinsam mit Ideengeber Lionel Wigram ein völlig eigenes Universum geschaffen, in dem auch die Liebe eine große Rolle spielt. Ein fesselnder Auftakt für Leser jeden Alters, der nur einen Fehler hat: Der nächste Band erscheint erst in zwei Jahren.
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