Als ob die moderne Gesellschaft nicht ohnehin mit dem Prinzip der Gleichzeitigkeit hilflos überfordert wäre, beginnt „Dunkel“ mit dem freundlich gemeinten Hinweis darauf, dass den geneigten Zuhörer „Karnickelfickmusik“ erwartet. Und es endet, 18 Stücke später, mit einem überraschend didaktischen Aufruf zur Demokratiebeteiligung. Huch, was ist denn mit den drei Kreativköpfen los, dass sie im charmant betitelten Lied „Our Bass Player Hates This Song“ zumindest inhaltlich mal ganz auf ironische Brüche verzichten? Ob’s an der Pandemie liegt? Musikern, die in der Regel viel unterwegs sind, wird schließlich nachgesagt, dass ihnen zwangsläufige Stubenhockerei selten guttut.
Aber weit gefehlt, die Band aus Berlin scheint das Abstandsregel-Gebot eher kreativ beflügelt zu haben! Auf „Dunkel“ sticht das letzte Lied des Albums hervor, ebenjener Song, den Rodrigo González, der Bassist des Trios, scheinbar hasst. Farin Urlaub formuliert darin, pünktlich vor der Bundestagswahl, ein ungewöhnlich plakatives Plädoyer für die Wahlbeteiligung: „Demokratie ist kein Fußballspiel, bei dem du nur Zuschauer bist. Ihre Feinde machen überall mobil, ich hoffe, dass du das nicht vergisst. Freiheit ist keine App aus dem www“.
Uneinig über Aufruf zum Wahlgang
González hatte sich nach Kenntnisnahme des Song-Namens darauf gefreut, weniger Fragen zu der Nummer beantworten zu müssen. Pustekuchen! „Ich finde den Text, sagen wir mal, problematisch“, sagt er diplomatisch. „Ich mag halt politische Songtexte nicht, die viele unterschreiben würden. Diesen Text könnten vermutlich auch Bundespräsident Steinmeier oder Christian Lindner für gut befinden. Mir ist das Stück inhaltlich zu universell gehalten.“ Bela B wirft dazu amüsiert ein: „Die werden uns die ‚Goldenen Schlüssel’ ihrer Städte hinterherwerfen!“. „Mir fehlt der Bruch in dem ausgesprochen ernst gemeinten Text“, führt González weiter aus. „Ich stoße mich zudem am erhobenen Zeigefinger, der in meinen Augen bedeutet: Hört mal zu, wir erklären euch jetzt mal Demokratie!“. „Menschen, die sich in nichtdemokratisch geführten Gegenden der Welt für die Wahlfreiheit einsetzen, werden gefoltert und setzen ihre Leben aufs Spiel. Wir hier tun so als ob Demokratie irgendwie lästig sei. Dazu musste ich, weil’s mir eine Herzensangelegenheit ist, ein klares Statement verfassen: Setze dein Kreuz gegen Hakenkreuze!“, entgegnet Farin Urlaub.
Am 11. September 2022 auf dem Mannheimer Maimarktgelände
Die Ärzte wurden 1982 in Berlin von Farin Urlaub, Bela B und dem Bassisten Sahnie gegründet. 1984 erschien ihr Debütalbum „Debil“, das später von der Musikkritik als „Bernsteinzimmer der deutschen Popmusik“ gefeiert wurde. Nach einem weiteren Album feuerten sie ihren intriganten Bassspieler. Anschließend trat die Band bis zur Auflösung 1988 mit Hagen Liebig auf, der allerdings kein festes Mitglied war.
Mit Rodrigo González am Bass formierten sich Die Ärzte 1993 neu. Das Comeback-Album „Die Bestie in Menschengestalt“, wurde mit weit über einer halben Million verkaufter Einheiten zum seinerzeit erfolgreichsten Werk ihrer Geschichte.
Während ihre ausverkaufte „In The Ä Tonight“-Arenen-Tour am Montag wegen der Corona-Regeln ersatzlos abgesagt wurde, bleiben die Termine für die „Buffola Bill in Rom“-Open-Air-Tour bestehen, im Rahmen derer Die Ärzte am 11. September 2022 auch das Mannheimer Maimarktgelände bespielen werden.
Während derzeit wahlweise Endzeitstimmungen oder psychologische Nabelschauen das Pop-Narrativ bestimmen, stiften Die Ärzte auf „Dunkel“ zu reichlich hoffnungsspendender Demut an. Bela B huldigt direkt-bauchig dem Wunder Musik in „Kerngeschäft“ mit der göttlichen Aussage „Musik ist älter als Kapitalismus“. Rodrigo González hebt seine Gesangsoktaven in „Schrei“ dergestalt an, dass der gemeine Metal-Shouter darin unweigerlich auf die erbärmlich tönenden, verbalen Flatulenzen der sogenannten „Querdenker“ trifft.
Farin Urlaub appelliert derweil poetisch und selbstverständlich pathosfrei im musikgewordenen Sinnieren über die „Kraft“ der Wörter an die Empathie. Schließlich zitieren Die Ärzte in „Tristesse“ sogar noch glorreich und unschuldig den frankophonen Pop der 1970er Jahre. Nicht zuletzt deshalb ist die Formel, nach der ihr letztes, vor nur einem Jahr erschienenes Album „Hell“ im Vergleich zu „Dunkel“ eine vergleichsweise heitere Platte gewesen sein soll, Quatsch. Alles zu jeder Zeit, an jedem Ort, ohne zwingend ersichtlichen Grund - gemäß dieses Leitmotivs schickt ihre Herrlichkeit BelaFarinRod die große Limousine des Ruhms einmal mehr unbenutzt in die Einfahrten derer, die sie brauchen. „Wie du kommst gegangen, so wirst du auch empfangen“, erklärt Farin Urlaub das gruppendynamische Langzeitprojekt Die Ärzte.
Authentizität nicht fälschbar
„Hängt man sich als Künstler hoch und strebt die ernsthafte Auseinandersetzung mit sich an, weil man vorgibt, dass andere Menschen das eigene Werk möglicherweise nicht verstehen können, wird man per se ernst genommen. Wir hingegen unterlaufen unseren eigenen Mythos als Band ständig.“ Und wie lässt sich die fortwährende Relevanz der Band deuten, der es scheinbar konstant gelingt, jede nachfolgende Generation anzusprechen, obwohl Sie es gar nicht darauf anlegt? „Die Antwort steckt in der Frage“, sagt Farin Urlaub. „Wir versuchen es erst gar nicht. Authentizität lässt sich nicht fälschen.“
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