Journal - Die Flüchtlinge haben Europa zum Kontinent der Humanität und Solidarität erklärt

Der europäische Sommer

Von 
Jagoda Marinic
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Auf der Flucht: Hunderttausende suchen verzweifelt Schutz in Europa.

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Wer kann die Wege dieser Bundesregierung in der Flüchtlingspolitik derzeit noch nachvollziehen? Die Kanzlerin plötzlich als deutsche Variante der albanisch-indischen Mutter Theresa. Die Vorwürfe der Regierungschefs aus Ländern an den EU-Außengrenzen stärken Merkel nur in ihrer Rolle als Hauptverantwortliche für die Entwicklungen in diesem europäischen Sommer. Es ist ein europäischer Sommer - und kein Flüchtlingssommer. Denn spätestens nach diesem Sommer sollte jedem Europäer klar sein, was es bedeutet, Europäer zu sein, dass es sich dabei um ein Privileg handelt, für das andere bereit sind, ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Zugegeben, bei ohnehin riskanter Lebenslage.

Was Europa lange nicht gelungen ist, nämlich sich neben der Wirtschaftsunion weitere gemeinsame Werte zu definieren, haben die Fliehenden getan: Sie haben Europa nun auch zum Kontinent der Humanität und Solidarität erklärt. Hier hat man nicht bemerkt, wie die europäischen "Soft Powers" sich in den Krisenländern verbreitet haben.

Ja, selbstredend, aus Europa werden Waffen in ebendiese Krisenregionen geliefert, doch auch das scheint dem Bild vom friedfertigen Europäer nichts anhaben zu können. An den Grenzen Europas eskaliert die Gewalt, Militär kommt zum Einsatz - doch die Bilder wirken nicht abschreckend, im Gegenteil: Viele hoffen, wenn man diese Grenze erst hinter sich ließe, wäre man vielleicht genauso geschützt vor dem Elend dieser Welt wie derzeit all die hinter diesen Zäunen.

Utopisches Trugbild?

Ein beinah utopisches Bild von einem in Frieden ruhenden Europa ist Teil der "Soft Power", von deren Macht und Strahlkraft Europa selbst am wenigsten wusste. Die US-Amerikaner brauchten eine ganze Industrie für den amerikanischen Traum, den Europäern reichte das europäische Leben. Die Ohnmacht im Umgang mit der aktuellen Situation beweist letztlich: Die Utopie ist so utopisch nicht. Europa kann im Ernst behaupten, das sei alles überraschend über den Kontinent hereingebrochen, weil es in den letzten Jahren mehr mit sich selbst beschäftigt war als mit der Lage der Welt und der eigenen Verantwortung darin.

Die Werte Solidarität und Humanität, die wollte Europa dieses Jahr nicht einmal innerhalb der eigenen Grenzen gelten lassen. Denn, man hat es ja fast vergessen, vor dem Sommer der Geflüchteten war dies das Jahr der Griechen. Es stand in den Sternen, ob Europa den "Grexit" (und somit den Griechen statt den Europäer) wählt oder die Solidarität in ihrer historischen DNA festschreibt - Solidarität mit den Menschen, nicht den Banken. Um ein Haar hätten wir Griechenland fallen gelassen. Die Welt können wir nicht fallen lassen, weil wir die Idee von Europa selbst fallen lassen müssten.

Wenn wir den humanitären Geist, aus dem heraus dieses Europa der Menschenrechte entstanden ist, nun Stück für Stück aushöhlen, bewegen wir uns unter anderem auf ein Notstandsasylgesetz zu, das nicht mehr nach den Grundsätzen der Humanität Asyl gewährt, sondern nach unserer Fähigkeit, die Notsituation zu organisieren.

Der Pragmatismus siegt über die Grundrechte, die Verwaltung über die Gesetzgebung. Der Gesetzgeber erlässt nur noch die Gesetze, deren Umsetzung ihm jene, die umsetzen sollen, zusichern können. Heißt das künftig, bei allem, mit dem wir nicht fertig zu werden meinen, schneiden wir uns die Welt so zurecht, wie wir wieder mit ihr fertig werden? Ist das nicht eine weitaus gefährlichere Utopie als die des friedlichen Kontinents?

Die europäische Flüchtlingspolitik muss über das Machbare hinaus denken. Sie muss im selben Atemzug über europäische Flüchtlingsunterkünfte und Außenpolitik sprechen. Erstmals spüren wir die Folgen gescheiterter sogenannter Interventionen am eigenen Leib. Oder zumindest am eigenen Stadtteil. Ministerpräsident Kretschmann nutzt diese Überforderung, wiederholt bestimmte Sätze wie ein Mantra, Sätze, die suggerieren: Wenn "die da" jetzt draußen bleiben würden, könnten wir das gut meistern. Uns muss nur klar sein, dass "die da draußen" zu einer Teufelsvariable werden kann in einem Europa, das nach wie vor mehr an Nationalstaaten als an Europa glaubt, das mehr an Machbarkeit denkt als an Humanität.

Wagt Merkel wirklich zu viel?

Europa kann an dieser Situation wachsen, wenn es seine Rolle endlich ausfüllt - etwas, was international seit langem eingefordert wird. Europa ist nicht der Nabel der Welt: Nur fünf Prozent aller Syrer auf der Flucht sind nach Europa. Auch wenn Deutschland jetzt laut den Kollaps verkündet, es ist ein Kollaps auf hohem Niveau. Merkel wagt viel, wenn sie sagt, wir werden jetzt auch Flexibilität lernen müssen. Wagt sie wirklich zu viel? Es sind achthunderttausend Menschen auf der Suche nach Schutz dieses Jahr eingereist. In Deutschland leben achtzig Millionen. Ein Mensch auf hundert Menschen. Ob wir dies menschenwürdig gestalten, daran hängt auch die Glaubwürdigkeit Europas. Und dieses Mal gelingt oder scheitert Europa nicht in Berlin, Brüssel, Lampedusa, Griechenland oder sonst wo. Europa gelingt oder scheitert dieses Mal auch in Baden-Württemberg, Mannheim oder Heidelberg.

Jagoda Marinic

Die Autorin und Kolumnistin ist Leiterin des Interkulturellen Zentrums Heidelberg. Sie wurde 1977 in Waiblingen als Kind kroatischer Eltern geboren und wuchs zweisprachig auf.

In Heidelberg studierte sie Germanistik, Politikwissenschaft und Anglistik in Heidelberg. 2005 war sie beim Stückemarkt und 2007 für den Bachmann-Preis nominiert.

Seit 2001 veröffentlicht sie Bücher. Mit ihrem Romandebüt "Die Namenlose" machte sie 2007 auf sich aufmerksam. 2013 erschien ihr zweiter Roman "Restaurant Dalmatia".

Auf Einladung der deutschen Botschaft Washington und des Davidson College wird sie, wie vor ihr Kurt Biedenkopf und Josef Joffe, die Rede zur deutschen Einheitsfeier halten. (Bild: JM)

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