Fotofestival - Die 6. Ausgabe des Festivals zeigt mit Künstlern wie Ai Weiwei an sieben Orten eine Welt, die aus den Fugen gerät

Der entwurzelte Mensch

Von 
Caroline Blarr
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Stadt im Wandel: Ai Weiwei dokumentiert den radikalen Umbruch in Peking.

© FF/AI

Der amerikanische Fotokünstler Trevor Paglen ist ein Detektiv, ein Jäger. Er findet Orte, die es offiziell gar nicht gibt, macht Dinge sichtbar, die unsichtbar bleiben sollen, so wie das amerikanische Hauptquartier der NSA in Maryland. Er wird selbst zum Spion und begibt sich auf die Spuren des amerikanischen Überwachungsstaates, der mit seinen Satelliten und Drohnen in die intimsten Sphären seiner Bürger vordringt. Doch seine Bilder sind keine dokumentarischen Beweisstücke. Sie bleiben unscharf. Wer eine eindeutige Antwort sucht, wird enttäuscht. Die Welt auf Paglens Bildern ist ein großes Rätsel. Und so passt sie in das Konzept von Kurator Urs Stahel, der mit internationalen Größen wie Ai Weiwei genau das bei der sechsten Ausgabe des Fotofestivals zeigen will: den Orientierungsverlust in einer fragilen Umwelt, die Brüchigkeit unserer Lebensentwürfe.

Alles steht zur Disposition

Angelehnt an die Sieben Weltwunder der Antike, die der griechische Dichter Antipatros von Sidon vor mehr als 2000 Jahren aufgelistet hat, will Stahel an sieben Ausstellungsorten sieben prekäre Felder der modernen Gesellschaft vorführen. Von den einst so prachtvollen Bauwerken sind immerhin die Pyramiden von Gizeh übriggeblieben. Heute steht beinahe alles zur Disposition, was die Moderne hervorbringt: Der entwurzelte Mensch wird auf sich selbst zurückgeworfen.

In einer Mischung aus dokumentarischen und künstlerischen Arbeiten, aus Wandbildern, Projektionen, Installationen, Film- und Videoarbeiten will Stahel nicht nur optisch, sondern auch inhaltlich diskursive, zeitgenössische Positionen der Fotografie zeigen. Der Hamburger Künstler Henrik Spohler zum Beispiel führt im Wilhelm-Hack-Museum die Revolution des 21. Jahrhunderts vor. Er taucht ein in die hochtechnologisierte Arbeitswelt, die den Menschen längst überflüssig macht. Die rußigen, schwarzen Hallen des Industriezeitalters sind reinweißen, sterilen Produktionsstätten gewichen. Das Künstlerduo Adam Broomberg und Oliver Chanarin setzt im Kunstverein Ludwigshafen auf eine kontemplative Form der Auseinandersetzung: Die beiden kommentieren und aktualisieren die Bibel mit ihren fotografischen Arbeiten. Und der britische Künstler Edmund Clarke zeigt das, was nach der Zensur durch das amerikanische Militär übrigbleibt: Einblicke in das Gefangenenlager Guantánamo.

Anstelle künstlich geschaffener Orte der Gewalt zeigt der chinesische Künstler Ai Weiwei im "Zephyr - Raum für Fotografie" reale Stadtlandschaften im Umbruch. Die alte Bausubstanz Pekings verwandelt sich in eine brutale Trümmerwüste, aus der uniforme Wolkenkratzer wachsen, die den vertriebenen Bewohnern keine Heimat mehr bieten.

Der aktuellen Tagespolitik folgt das, was der griechische Künstler Stefanos Tsivopulos in der Kunsthalle Mannheim zeigen wird. Drei Figuren geben im Stile eines Episodenfilms ein Porträt der griechischen Gesellschaft und formulieren ein künstlerisches Manifest gegen das bestehende Finanz- und Wirtschaftssystem. Und so verliert sich der Blick auf das große Ganze immer wieder im Mikrokosmos des Einzelnen. In der Sammlung Prinzhorn wird das besonders deutlich: Das Individuum wendet sich ab von der Welt und verliert sich in narzisstischer Selbstgefälligkeit.

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