„Ich brauche den Druck“, lässt Chilly Gonzales sein Publikum im Ludwigshafener Feierabendhaus bei seiner ersten kurzen Ansprache wissen – und stellt dabei klar, dass es gerade die „hohen Erwartungen“ seiner Zuhörer sind, nach denen er lechzt. Während des pandemischen Publikumsentzugs haben sie ihm – dem Performancekünstler unter den Pianisten – gefehlt wie ein Lebenselixier. Nach seinen Gastspielen 2015 und 2019 in den Hallen der BASF deutet Gonzales daher vielsagend an: „Ich habe euch im Auge!“
Ein zweifelnder, poetischer Zugriff
Doch zunächst blickt ein restlos ausverkaufter Saal über den Lichtkegel des Spot-Scheinwerfers auf ihn, der – fast schon traditionell – in seidenem Bademantel, Pantoffeln und mit dem Willen über die Tasten gleitet, Außergewöhnliches zu leisten. Den Auftakt zwischen seinen Eigenkompositionen „Gogol“, „Carnivalse“ und „White Keys“ zeichnet er auf der Klaviatur wie ein Feinbleistift auf Papier: Sanft umschmeicheln seine Finger die Tasten, fragen nach Tiefe, Meinung und Bedeutung. Es ist ein zweifelnder, poetischer Zugriff, der die Antwort nur durch die Schönheit des Augenblicks allein zu geben vermag.
Riskant ist dieses Spiel ohne Zweifel, aber genau deshalb auf seine Art und Weise auch so genial. Weil Gonzales tatsächlich viel zu verlieren hat – und genau daraus die Kraft seiner Entschlossenheit zieht. In „Dot“ lässt der Maestro seinen Zuhörern im irisierenden Notensturm die Köpfe rauschen, wenig später eröffnet er uns die Ergüsse seines eigenen Sinnesrauschens. Denn ob sich nun Schildkröte, Katze oder Grizzly in tonalen Episoden zu skurrilem Handeln zusammentun: Gonzales macht kein Geheimnis daraus, dass diese drei Stücke ihren Weg aufs Papier fanden, als ihr Erschaffer ordentlich am – „wie sagt ihr dazu, kiffen?“– war.
Streng genommen könnte man nun natürlich empört herantreten und behaupten: Dieser Gonzales ist eine Unverschämtheit. Verwischt seinen eigenen Anschlag, lässt lyrisch Schönes („Poem“) von expressivem Sturm und Drang („Gonzo Bongo“) verschlingen und fühlt sich dabei auch noch hervorragend. Doch blickt Ludwigshafen in diesen guten zwei Konzertstunden auf keinen Bühnenhelden, der sich als Befreier gerieren will: Chilly Gonzales macht aus seinem neoklassischen Massaker („Neoclassical Massacre“) die größte Selbstverständlichkeit – und genau das imponiert.
Die hohen Erwartungen erfüllt
Zugegeben: Das wirklich herausragende begleitende Trio aus Cellistin Stella Le Page, Taylor Savvy (Bass) und Geiger Yannick Hiwat kommt bei all der Dominanz des Klangführers bisweilen zu kurz. Allenfalls Nummern wie das souverän-gigantische „Advantage Points“, das Electric Jazz wie in einem wilden Kreislauf mit Synth Pop vereint, lassen spüren, wie sehr sich Gonzales auf die Kraft seiner Mitmusiker verlassen kann, um einen noch reicheren, differenzierten Blick auf einen Abend zu gestatten, der vieles ist nur nicht banal. Doch auch so dürfen wir zur Notiz nehmen, dass die „hohen Erwartungen“ von Ludwigshafen auch beim dritten Aufeinandertreffen auf bezeichnend schöne Weise erfüllt wurden. Auf beiden Seiten.
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