Mannheim. Jakob Lenz wird von Stimmen gequält, hinaus in den Wald getrieben, und auch die Ruhe, die er im Haus des Pfarrers Oberlin findet, ist nur von kurzer Dauer: Wolfgang Rihm hat in seiner Kammeroper „Jakob Lenz“ das dramatische Schicksal des Dichters frei nach Georg Büchners Novelle „Lenz“ vertont. Wir sprachen mit Regisseur Calixto Bieito über seine Neuinszenierung der Oper am Mannheimer Nationaltheater.
Herr Bieito, Sie haben eine besondere Bindung zu Jakob Michael Reinhold Lenz, nicht wahr?
Calixto Bieito: Ich liebe Lenz, seit ich sehr, sehr jung war. Ich habe ihn aus dem Französischen ins Katalanische übersetzt, damit ich ihn meinen Freunden an der Universität vorlesen konnte – „Die Soldaten“ und einen Teil seiner Korrespondenz. Er war eine Art Held für mich.
Was hat Sie an ihm so fasziniert?
Bieito: Das kann ich gar nicht so genau sagen, aber seine Stücke haben mich gefesselt. Ich habe sie zuerst auf Spanisch gelesen. Das Einzige, was zu dieser Zeit ins Spanische übersetzt vorlag, war „Der Hofmeister“. Später erwarb ich sein ganzes Werk. Und für das, was ich nicht auf Französisch lesen konnte, ging ich zum Goethe-Institut, das nur 200, 300 Meter von der Universität entfernt war, wo ich Romanistik studierte, und habe es mit dem Wörterbuch übersetzt. Vielleicht war ich von ihm fasziniert, weil er diese Art von Mann war – manchmal ein Moralist, manchmal ein Clown, manchmal sehr verliebt in eine Frau, getrieben. Er war von den elitistischen Künstlern ausgeschlossen. Er ist – wie Ödön von Horvath oder Robert Walser, Büchner natürlich auch – einer dieser Schriftsteller, die etwas sehr Besonderes haben. Sie haben etwas … vielleicht sehr Menschliches, nicht Perfektes. Es gibt da einfach diese Verbindung.
Calixto Bieito und die Kammeroper „Jakob Lenz“
- Wolfgang Rihms Kammeroper „Jakob Lenz“ in der Regie von Calixto Bieito feiert am Samstag, 11. Dezember, 19 Uhr, im Opernhaus des Mannheimer Nationaltheaters (NTM) Premiere.
- Die Musikalische Leitung hat Franck Ollu. Den Lenz singt Joachim Goltz, den Oberlin Patrick Zielke, den Kaufmann Raphael Wittmer.
- Die Kammeroper basiert auf der Erzählung „Lenz“ von Georg Büchner und wurde 1979 uraufgeführt.
- Weitere Vorstellungen sind am 17. und 22. Dezember, jeweils 19 Uhr, sowie am 30. Januar, 18 Uhr.
- Der spanische Schauspiel- und Opernregisseur Calixto Bieito, geboren 1964, war unter anderem künstlerischer Leiter des Barcelona Internacional Teatre, des Teatre Romea in Barcelona und des Festivals Internacional de las Artes de Castilla y León.
- 2009 wurde er in Basel von der Kulturstiftung Pro Europa für seine Verdienste im Bereich der Opernregie mit dem Europäischen Kulturpreis ausgezeichnet. Seit der Spielzeit 2013/2014 ist es „Artist in residence“ am Theater Basel.
- Bieito hat immer wieder auch am Mannheimer Nationaltheater gearbeitet, zuletzt inszenierte er dort in der Spielzeit 2018/2019 Claudio Monteverdis „Marienvesper“ als szenische Aufführung.
Wie erleben wir hier den Menschen Lenz?
Bieito: Die Geschichte von Büchner handelt nicht nur von Dunkelheit, nicht nur von Krankheit. Sie handelt – auch in der Oper – von einem Künstler, einem Dichter, von der Natur, den Blumen, den Bäumen, den Bergen, den Steinen. Die Musik ist eine wunderbare Musik, sie ist wunderschön, sie ist nicht wie bei Zimmermann (Bernd Alois Zimmermann, der die Lenz-Opernadaption „Die Soldaten“ schrieb, die Bieito auch bereits inszenierte, d. Red.) – bei Zimmermann ist sie wild und schön, hier ist sie nicht wild.
In der Oper „Jakob Lenz“ gibt es viele Schichten – da ist das Leben von Lenz selbst, das von Büchners Novelle erzählt wird, die in Michael Fröhlings Libretto erzählt wird, das mit Wolfgang Rihms Musik erzählt wird …
Bieito: Aber das ist die Geschichte der Kunst – die ganze Geschichte der Kunst ist eine Interpretation einer Interpretation einer Interpretation einer Interpretation. Wir haben Lenz, wie Sie gesagt haben, wir haben Büchner, wir haben Rihm – und jetzt haben wir Mannheim, Bieito, Anna-Sofia Kirsch (die Bühnenbildnerin), meine Sänger.
Wie offen und interaktiv ist Ihr Arbeitsprozess? Beeinflussen die Künstler, die Musiker Sie dabei sehr?
Bieito: Ja, alles. Die Proben sind entspannt, wie in einem Tennisspiel, sage ich immer: Wenn du sehr entspannt bist, spielst du auch sehr gut. Ich muss die Dinge zusammen mit anderen Menschen entdecken. Natürlich habe ich starke Vorstellungen, aber ich bin offen. Die Proben sind ein angstfreier Raum. Es gibt genug Ängste im Leben.
Ihre Inszenierungen haben immer wieder starke, intensive, radikale Eindrücke beim Publikum hinterlassen – ist das etwas, das sie bewusst erreichen wollen, oder ist es einfach Teil Ihrer künstlerischen Vision?
Bieito: Es hängt von dem Stück ab. Ich habe jetzt die „Johannes-Passion“ gemacht, am Théâtre du Châtelet in Paris, ich dachte, es wäre schön, es so zu machen, als würden die Leute auf der Straße Bach singen (lacht). Und das war sehr zart. Aber natürlich, wenn du „Macbeth“ machst oder „Rigoletto“ – „Rigoletto“ ist ein grundsätzlich gewalttätiges, brutales Stück. Oder „Die Soldaten“ – es ist voll von Schmerz, voll von Gewalt. Der Mensch ist in der Lage, die schrecklichsten Dinge zu tun, wir wissen das. Aber er ist in der Lage, auch wunderbare Dinge zu tun. Ich erinnere mich sehr gut daran, als ich das erste Mal die Höhle von Altamira im Norden Spaniens besuchte und die Höhlenmalereien von Tieren dort sah. In meiner kindlichen Fantasie hatte ich den Eindruck, dass die Tiere sich bewegten, natürlich taten sie das nicht (lacht). Und das ist die Kunst, sie muss diesen Eindruck hervorrufen.
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