Ein Reklameflugzeug zieht über den Himmel, beschreibt Kurven und Schleifen und hinterlässt überall Buchstaben. Aber welche Buchstaben? „Sie waren nur für einen Augenblick zu sehen; dann lösten sie sich auf und waren wie vom Himmel wegradiert, und das Flugzeug schoss weiter dahin und begann an einem Stück Himmel wieder zu schreiben, ein K?, ein E, vielleicht ein Ypsilon?“ Mrs Dalloway verfolgt das Flugzeug mit den Augen, und im nächsten Augenblick ist der Leser bei einem Ehepaar auf einer Bank im Regent‘s Park, das auch versucht, die Schrift zu entziffern, wozu sie ihn animierte: „Denn Dr. Holmes hatte ihr geraten, ihren Mann (der nichts wirklich Ernsthaftes hatte, sondern nur nicht ganz bei sich war) dazu anzuhalten, sich mit irgendwelchen Belanglosigkeiten abzulenken.“ Aber Septimus Warren ist vom Krieg gezeichnet, er sieht überall Zeichen und Symbole, leidet unter einer Psychose.
Es ist dieses Flugzeug, das den Leser des Romans „Mrs. Dalloway“ von Virginia Woolf von einem Schauplatz zum anderen führt, ein unscheinbares Etwas. Das aber schließlich dazu führt, dass Mrs. Dalloway genau sieht, wie Warren sich zu Tode stürzt und damit verrät, dass die Autorin mit ihm ebenso eng verbunden ist wie mit ihr. Wie schnell überliest man diese Szene.
Maar erzählt in einem schönen Plauderton von abstrusen Einzelheiten
Eigentlich ist es ja normal, dass man beim Lesen eines Romans auf die Kleinigkeiten achtet, auf versteckte Details und Andeutungen, die voraus- oder zurückdeuten. Aber selten werden diese Details in der Literaturkritik so geballt vorgestellt wie in diesem dicken, wunderbaren Schmöker von Michael Maar. So kauft Tom Ripley in Patricia Highsmiths erstem Roman ein Bild von zwei Männern, denn eigentlich ist er ein verhinderter Künstler; in Graham Greenes „Das Ende einer Affäre“ geht es um den Geruch von Zwiebeln; in „Tristram Shandy“ wird anfangs einmal die Woche die Uhr aufgezogen – ein Signal für die ehelichen Pflichten, ohne die der Held nie geboren wäre; bei John Updike tummeln sich „sterbende Wespen auf einem Fensterbrett wie taumelnd alte Männer“.
Sehr viel erfährt man in diesem Buch: was Sigmund Freud von Sherlock Holmes unterscheidet, dass man den Baden-Badener Werner Bergengruen doch einmal lesen muss, dass Thomas Mann immer „Hemmingway“ schrieb und dass Hemingway in einem Roman meinte: „Sex explains it all“, auch den Sezessionskrieg: „Abraham Lincoln war schwul. Er war in General Grant verliebt.“ Viele solcher abstrusen Einzelheiten erzählt Maar, manche davon grade mal so nebenbei, in einem schönen Plauderton, dem man gern und lange zuhören mag.
Aber dieses grandiose Buch, das einen immer wieder zum Lesen der Bücher animiert, von denen Maar erzählt, hat auch einen großen Nachteil: Schnell werden aus den Details, von denen er erzählen wollte, ganze Romane, die er nacherzählt, die er mit großer Verve empfiehlt, viele von ihnen kaum bekannt, wie Mark Twains „1601“. Und viele lange Seiten Nacherzählung von Mark Twains oder Colettes Leben und Romanen, so interessant sie auch sein mögen, lenken dann doch zu sehr von seinem eigentlichen Thema ab, dem Detail in der Literatur. Sehr schade.
Zum Buch
Michael Maar: Das violette Hündchen. Große Literatur im Detail. Rowohlt Verlag, 592 S., 34 Euro.
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