Ist der Mann gefährlich? Die Indizien sind erdrückend – und die Kino-bilder suggestiv. Nicht nur in Stanley Kubricks „Clockwork Orange“ (1971), wo die neunte Sinfonie von Beethoven die Jugend-Gang zum „Tollschocken“ ermuntert. Zum Vertrimmen, Schänden, Plündern. Zu Exzessen von sinfonischer Gewalt. Die klassische Musik wird hier indessen noch konventionell verwendet: als Geschmacksverstärker der brutal perfekten Bilder.
Anders sieht das bei Jean-Luc Godard und „Prénom Carmen“ (1983) aus, der Regisseur verschneidet zu Beginn des Films die Probe eines Streichquartetts – natürlich spielt es Beethoven – mit Szenen eines Bankraubs. Und das führe, meint Musikologin Dörte Schmidt beim Heidelberger Streichquartettfest, zu einer Komplizenschaft: „Wir sitzen immer mit im Kreis.“ Zumindest bei der Probe ist das so, der Regisseur vermittelt es auch durch die Position der Kamera. „Ich habe von Godard viel über Beethoven gelernt“, sagt Schmidt im Anschluss an den Vortrag. „Quartette sind etwas Konkretes“, fügt sie an, sie folgten einem radikalen Kommunikationsprinzip. Weil sie Intimstes offenbarten. Und das Publikum dabei zunächst „nur“ duldeten.
Festsaal fast immer voll
Aber die bürgerliche Gattung Streichquartett hat dennoch spätestens mit Beethoven zu einer Relevanz gefunden, die man in der Heidelberger Alten Pädagogischen Hochschule noch heute spüren kann. Das Publikum an den vier Tagen ist ein bürgerliches und vom Altersdurchschnitt her recht reifes, doch der große Festsaal ist fast immer bis zum Anschlag voll. Es geht im Jubiläumsjahr schließlich um Beethoven und seine Zeitgenossen, einst und jetzt. Gespielt werden auch weniger bekannte Komponisten. Dieser instruktive Ansatz wird zwar am Eröffnungsabend leicht gestört – das spanische Quiroga Streichquartett fällt krankheitshalber aus, statt Gaetano Brunetti wird der überaus bekannte Zeitgenosse Joseph Haydn aufgeführt. Doch dafür von besonders unverbrauchten Interpreten: dem Adelphi Streichquartett, das erst am Nachmittag davor den ebenfalls vor Ort (von der Irene Steels-Wilsing Stiftung) ausgelobten Wettbewerb gewonnen hat.
Es sind vier junge Musiker, die aus vier Ländern stammen und in Salzburg residieren. Wo sie Rainer Schmidt betreut, Geiger im Hagen Streichquartett. Sein Einfluss lässt sich deutlich wahrnehmen: scharfe Kontraste, hohe individuelle Freiheit. Selbst Bratscher Marko Milenkovic meldet sich immer wieder keck zu Wort, fast wie ein Tischgast, der gern mal über die Stränge schlägt. Das hört sich prononciert modern an. Aber auch geerdet.
Weniger Frauen als noch 2019
War im vergangenen Jahr bei den beim Streichquartettfest musizierenden Ensemble-Mitgliedern ein hoher Frauenanteil aufgefallen, lässt sich diesmal eine Rückkehr zu vertrauten Rollenbildern konstatieren: Die nicht allzu vielen Frauen sitzen auch noch häufig an der zweiten Violine. Doch auch das ist nur eine Momentaufnahme, und stilistisch sind die Musiker meist auf dem aktuellsten Stand, sogar bei Beethoven – was nicht bloß für das diesbezüglich preisgekrönte italienische Quartetto di Cremona gilt. Einzig das britische Navarra Streichquartett verliert sich manchmal in der episch weiten Welt von Opus 59/1. Während das deutsche Vision Streichquartett in Opus 132 lange Zeit mit größter Achtsamkeit, Behutsamkeit verfährt und den „Heiligen Dankgesang“ noch mehr als sonst zu Herz und Seele der fünf Sätze macht.
Dann ändern sich der Dress-Code und die Spielhaltung: Die „Lange Nacht“ in Heidelberg steht an, die Vision-Musiker streifen karierte Hemden über, spielen Benny-Goodman-Swing (und zwar hervorragend) und Selbstverfasstes (nett, aber nicht abendfüllend). Voll wird dann aber die Saalbühne: Hans Hachmann, lange als Musikfachmann beim SWR geschätzt, hat Brahms-Walzer für ein Ensemble aus vier Streichquartetten (!) eingerichtet. Nobel und nostalgisch. Was für eine Schwelgerei.
Dann geht es in die „Rock Lounge“, wo das fabelhafte Signum Streichquartett zu „Re-Imagines“ der Musik von Cream, Led Zeppelin und anderen Heroen bittet. Doch der größte Held des Progrock heißt natürlich „Ludwig van“: Die „Große Fuge“ Beethovens ist Schluss- und Höhepunkt des Abends.
Vorspiel für den Heidelberger Frühling
- Geboren 1964, hat sich Dörte Schmidt als Forschungsschwerpunkte Musiktheater und Musik des 20. und 21. Jahrhunderts ausgewählt.
- Zudem bemüht sie sich um die kulturgeschichtliche Kontextualisierung des Musikwesens. Seit 2006 ist sie als Professorin in Berlin tätig.
- Beim Heidelberger Streichquartettfest war sie neben Oliver Wille für die Workshop-Leitung zuständig.
- Für die 17 Veranstaltungen wurden 6000 Tickets verkauft, die Auslastung lag bei etwa 96 Prozent.
- Das Fest ist das Vorspiel für den Heidelberger Frühling, der vom 21. März bis 24. April stattfindet.
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