Ein politisch korrekter Schlager für Kinder in der DDR fing so an: "Kleine weiße Friedenstaube, fliege übers Land / allen Menschen, großen und kleinen, bist du wohlbekannt." Die Friedenstaube flog und flog, übers große Wasser, über Berg und Tal, über Pioniernachmittage und Parteiveranstaltungen, und mühte sich redlich in ihrem stressigen Job - auf dem Gebiet der DDR vier Jahrzehnte lang, denn dort wurde sie 1948 von der Kindergärtnerin Erika Schirmer mit Text und Melodie auf große Reise geschickt.
Die kleine weiße Friedenstaube hatte, wie wir heute wissen, durchaus Erfolg in ihrer Mission, zwar nicht im globalen Maßstab, aber immerhin im regionalen, etwa bei der friedlichen Revolution in der DDR. Und so taucht sie folgerichtig in der Graphic Novel "Herbst der Entscheidung" auf, um nach getaner Arbeit Ende November 1989 in Leipzig ein klares Zeichen zu setzen: Pardon, aber sie sch . . . auf Karl Marx. Genauer auf Marxens großen Kopf, der zentraler Teil eines Reliefs ist, das seinerzeit über dem Hauptgebäude der nach ihm benannten dortigen Universität prangt.
Es ist ein eindeutiges Urteil über Historischen Materialismus und Sozialistischen Realismus und alles Dazugehörige, welches der Comiczeichner und Illustrator Peter M. Hoffmann seiner kleinen weißen Friedenstaube gönnt. Diese emblematische Szene fasst auf andere, volksnahe Art zusammen, was über die Jahre schon durch verschiedene Medien unterschiedlich erklärt wurde: das plötzliche Ende eines Gesellschaftssystems, dessen große Heldenmythen kleine Heldentaten provozierten.
Hoffmann, Jahrgang 1968, zur Seite steht dabei als Autor Bernd Lindner, Jahrgang 1952, als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Ausstellungskurator im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig ein Experte für DDR-Geschichte. Ihre Graphic Novel, so der Fachbegriff für in Wort und Bild anspruchsvollere Comic-Bände, liefert eine Chronologie der Ereignisse, die einem dokumentarischen Stil in Wort und Bild verpflichtet ist. Sie hat einen engen zeitlichen Rahmen, der von Anfang September bis Ende November 1989 reicht. Was nicht in Bildern erzählt werden kann, wird in vor- und nachgestellten Texten erzählt.
Im Mittelpunkt steht Daniel Krüger, ein 17-jähriger Leipziger Abiturient, der eine Gruppe von Bürgerrechtlern zu dem Zeitpunkt kennenlernt, als sein Gewissenskonflikt (drei Jahre Armeedienst für einen Studienplatz) um einen Generationenkonflikt (sein staatsnaher Vater ist Germanistik-Dozent und SED-Mitglied) erweitert wird. Daniel hält sich von Eltern und Schule fern und landet mit seinen neuen Freunden sehr schnell auf der Straße - als Demonstrant. Er verteilt Flugblätter, taucht ab, taucht wieder auf, engagiert sich beim Neuen Forum, verliebt sich in die bürgerbewegte Katrin, bleibt und reist dann doch nach West-Berlin, macht sich seine eigenen Gedanken und geht seinen eigenen Weg.
Dem Licht entgegen?
Das letzte Bild zeigt ihn allein auf den Straßen seiner Stadt, in denen alles seinen Anfang nahm. Die Gründerzeithäuser bröckelig, der abgestellte Trabant popelig - und vor ihm teilt sich die Straße, nach links geht's dem Licht entgegen, nach rechts ins Dunkel. Er hat die Wahl.
In historisch genauen, lebendigen Bildern berichtet im "Herbst der Entscheidung" aus Leipzigs Straßen, dem Hort der friedlichen deutschen Revolution von 1989, nicht ohne kurz nach Berlin oder Dresden zu schwenken. Dem 9. Oktober wird, als besonderer Tag, auch eine besondere Aufmerksamkeit zuteil. 70 000 Bürger treffen auf 8000 Uniformierte - und eine "chinesische Lösung" bleibt aus, die Wende ist eingeleitet, Mauerfall und Wiedervereinigung werden folgen. Eine besondere Würdigung erfahren Leipziger Bürgerrechtler wie Katrin Hattenhauer oder Uwe Schwabe, deren Biografien als Vorlage für gleichnamige Figuren des Bandes dienten.
Peter M. Hoffmann (auch PM Hoffmann) versteht es, in schwarz-weißen Panels das Geschehen sehr authentisch einzufangen. Sein Fotorealismus spielt mit Verweisen auf Pop Art: große, dicke Sound-Wörter, gepunktete Flächen, exponierte Konsumartikel wie bei Warhol, markante Frauengesichter wie bei Lichtenstein. Pop-Ikonen wie David Hasselhoff (der Freiheitssucher) und Zonen-Gaby (die Bananensucherin) bekommen ebenfalls ihren kleinen Auftritt.
Hoffmann und Lindner schaffen den Spagat zwischen Fakten und Emotionen, Geschichte und Geschichten, politischer Dimension und privater Perspektive, Euphorie und Skepsis. Ihnen gelingt, wenn auch in eher konventioneller Form, zum Kern der Ereignisse vorzudringen: zu den Menschen, die Bürger waren und Revolutionäre wurden.
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