Passend zum gerade verabschiedeten Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Sterbehilfe ist Seelenwanderung auch am Schauspiel Stuttgart ein Thema: In Noah Haidles Stück „Weltwärts“ geht es darum, ein Wesen von der einen in eine andere Welt zu befördern. Und weil das freiwillige Ableben nicht nur für die 36-jährige todkranke Anna (Therese Dörr) ein unvergesslicher Moment sein soll, sondern auch für ihre Familie, hat man sich für die Transmigrationszeremonie eine Party ausgedacht, die auf der Bühne in Echtzeit abläuft: Nach einer Stunde und 45 Minuten ist der Spaß vorbei und Anna tot.
Apropos Spaß: Der hätte es werden können, wenn es Burkhard C. Kosminski, der auch den letzten Haidle „Für immer schön“ mit Ulrike Folkerts im Oktober 2017 am Nationaltheater uraufgeführt hat, gelungen wäre, seine Inszenierung konsequent mit dem subtilen Witz zu durchziehen, der bei Haidle wenigstens ab und zu mal durchblitzt. So aber liegt über der Szenerie eine zentnerschwere Freudlosigkeit, die auch durch plakativen Ulk und Slapstick leider nicht leichter wird.
Vater, Mutter, Nachwuchs – weiße Papierwände mit Kinderzeichnungen dienen als Bühnenhintergrund (Florian Etti) und wollen die Tragödie aufheitern, die sich hier anbahnt. Dass Dorothy (Anke Schubert), Mutter der sterbewilligen Anna, ausgerechnet Hebamme ist und jetzt die Seiten gewechselt hat – sie hilft Seelen nicht mehr in die Welt, sondern unterstützt sie bei ihrem Weg ins Jenseits – hat eine besondere Brisanz. Zumal Onkel Buddy (Elmar Roloff), Zahnarzt und unschwer an seiner Kostümierung (Lydia Kirchleitner) erkennbarer Krishna-Anhänger, sich statt des hippokratischen Eids jetzt auf die Mithilfe beim assistierten Suizid spezialisiert hat.
Unterkühltes Ensemble
Was lässt sich in der letzten Stunde vor dem Tod noch alles erledigen? Eine Geigenstunde! Die hat Anna dringend nötig, wie Zuschauer hautnah miterleben können. Von „Twinkle, twinkle little Star“ bis zur geplanten Hymne an die Götter, die die Lebensmüde in ihren letzten Momenten spielen will, ist es noch weit. Das stellt auch Musiklehrer (Gábor Biedermann) fest, der seine Schülerin damit überrascht, dass er sie liebt. Schade, dass das Geständnis für eine gemeinsame Zukunft etwas zu spät kommt.
Die Einzige, die Anna noch vor dem Tod retten könnte, ist ihre Tochter Rose. Doch die ist mit ihren sieben Jahren derart lebensklug und gefasst, dazu hoch philosophisch, dass von dieser Seite wohl kein Aufschrei zu erwarten ist. Die Abgeklärtheit, mit der Rebekka Roller ihre Figur anlegt, ist überzeugend. Und bei ihr wirkt dies auch natürlich und lebensecht. Ansonsten bleibt das Ensemble bei dieser depressiven Ablebe-Party zwischen weißen Plastik-Gartenmöbeln aber meist unterkühlt: Roloffs bunter Krishna lässt Glöckchen klingeln und scheint vor allem mit seiner Darbietung beschäftigt, Mutter Dorothy erwacht nur einmal kurz, aber wie aufgesetzt aus ihrer Starre und dem minimalen Mienenspiel, als ihr bewusst wird, dass es diesmal um ihre eigene Tochter geht. Und Dörrs Anna bleibt so blass, als hätte sie das Tor in die andere Welt längst passiert.
Leben steckt dagegen im Auftritt von Josephine Köhler als ihre Zwillingsschwester Baby, die nichts von dem bevorstehenden Suizid wusste und aus allen Wolken fällt. In provozierenden Klamotten, die ihre Unangepasstheit demonstrieren, ist sie denn auch prompt dagegen und zeigt vehemente Emotionen. Und auch Klaus Rodewald hat als ungeliebter asozialer Nachbar Kevin ein Herz.
Nun hat das Thema mit dem Urteil des Verfassungsgerichts zum Recht auf selbstbestimmtes Sterben ja passenderweise drei Tage vor der Uraufführung an Brisanz gewonnen. Bei Haidle ist die Sache aber noch strafbar, und das Auftauchen des Officers (Peer Oscar Musinowski) bringt ein wenig Schwung ins unentschiedene Spiel Kosminskis. Indes sind verpixelte Fotos aus dem Familienalbum, Gesangs- und Zeitlupeneinlagen zu wenig, um nachhaltig zu fesseln, bis Anna endlich ihr Glas erhebt und mit der tödlichen Mischung „auf den allerschönsten Abend“ anstößt.
Musste man zuvor schon Details zu Krankheiten über sich ergehen lassen, die man nicht wissen will, wird es am Ende noch einmal ganz schlimm: Jeder erzählt, wann und wie er dereinst sterben wird – eines natürlichen Todes oder durch Unfall. Immerhin.
2017/2018 am NTM
- Noah Haidle wurde 1978 im US-amerikanischen Michigan geboren und arbeitet als Drehbuchautor und Dramatiker.
- Sein Werk „Alles muss glänzen“ wurde 2015 vom Theaterverlag zum „besten ausländischen Stück“ ernannt.
- In der Spielzeit 2017/2018 war Haidle Hausautor am Nationaltheater Mannheim. In der Spielzeit wurden unter anderem seine Stücke „Götterspeise“ und „Für immer schön“ uraufgeführt. Letzteres unter der Regie von Burkhard C. Kosminski, mit dem Haidle seitdem regelmäßig zusammenarbeitet. (seko)
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