Gedenktag - Wolfgang Niedecken, Sänger der Kölner Rockband BAP, zum 100. Geburtstag des Kölner Literaturnobelpreisträgers Heinrich Böll

„Ansichten eines Clowns“ - das war wie ein Blitzeinschlag

Von 
Wolfgang Niedecken
Lesedauer: 
Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll (l.) diskutierte in seinem Haus in Langenbroich im November 1984 für eine WDR-Sendung mit BAP-Sänger Wolfgang Niedecken. © René Böll

Was die Literatur betrifft, hatte ich persönlich außer Bob Dylan keinen so wichtigen Einfluss wie Heinrich Böll. Was der Dylan-Song „Like A Rolling Stone“ musikalisch bedeutete, dem entsprach Bölls Roman „Ansichten eines Clowns“. Das war wie ein Blitzeinschlag. Damals habe ich gedacht: „Aha, so was gibt es also auch. Wahnsinn, das handelt ja von mir.“ Bei Böll geht es aber sowohl um die Literatur als auch um die moralische Haltung – das konnte man bei ihm nicht voneinander trennen. Er war sehr, sehr bodenständig – das hat mich beeindruckt. In einer Zeit, in der man sich als kritischer Mensch nicht unbedingt als Deutscher zu erkennen geben wollte, hat er das gemacht. Für Böll waren seine Romane auch Heimatromane. In dem Sinn, dass Menschen darin eine Heimat finden. Solche Begriffe – wie auch „Volk“ – haben ihn nicht erschreckt. Aber er war ja auch über jeden Verdacht erhaben, dass das in irgendeiner Weise rechts-völkisch gemeint sein könnte.

Verfechter christlicher Werte

Heinrich Böll war eindeutig Moralist. Was die Grundwerte angeht: Ich habe für mich ja mal die Formulierung „restkatholisch“ geprägt, das war bei ihm noch viel ausgeprägter. So etwas wie christliche Nächstenliebe war Böll enorm wichtig. Wenn man die frühen Arbeiten, Erzählungen oder Briefe liest – das war schon sehr religiös geprägt. Vor allem die Feldpost an seine Frau.

Dass er heute nicht mehr so populär ist, wie er es verdient hätte – und wie es für unsere Gesellschaft wichtig wäre, mag daran liegen, dass er nach dem Krieg von der Trümmerliteratur aus gestartet ist. Beim Wiederaufbau hat er sich quasi auch selbst wiederaufgebaut – und sich gefunden. Das war sein großes Thema. Aber irgendwann hatten die Leute genug von der Trümmerliteratur, sie wollten endlich wieder genießen. Aber das heißt nicht, dass er keine Berechtigung mehr gehabt hätte, sich damit auseinanderzusetzen. Er hat den Krieg und die Nachkriegszeit nie vergessen können. Böll war sich auch sicher, dass es sehr schwer werden würde, vor der Gefahr von Totalitarismus und Krieg zu warnen, wenn die Menschen, die diesen Horror miterlebt haben, alle gestorben sind. Heute ist kaum noch jemand in der Lage, authentisch zu warnen. Genau das erleben wir ja gerade, in Zeiten eines notorischen Lügners wie Donald Trump als US-Präsident. Ich kann mir inzwischen sogar vorstellen, dass er wiedergewählt wird. Die Verblödungsmaschinerie funktioniert perfekt.

Heute wäre einer wie Böll enorm wichtig. Von ihm lernen können wir vor allem Demut und Nächstenliebe, die christlichen Grundwerte. Während des Wirtschaftswunders war er ja auch ein ständiger Kritiker der wachsenden Verlogenheit. Danach haben ihm die Erfolgserlebnisse gefehlt. Selbst Verrisse in Zeitgeistpostillen wie „Tempo“ sind ihm nahegegangen. Er war ja vollkommen offen und verwundbar. Dabei total uneitel. Wenn man ihm Fragen gestellt hat, war er wie an einen Lügendetektor angeschlossen.

Bei uns in Köln ist Böll natürlich immer noch sehr präsent. Ansonsten gab es zuletzt relativ wenig Wertschätzung dafür, was er diesem Land gegeben hat. Gut, in Köln gibt es den jährlichen Heinrich-Böll-Preis, das Böll-Archiv, und die Stiftung der Grünen ist nach ihm benannt.

Zu geringe Wertschätzung

Persönlich kennengelernt haben wir uns 1983 im Kölner Lamuv Verlag, der von seinem Sohn René Böll betrieben wurde. Wir sind uns damals gerade einig geworden, dort unser erstes Buch „BAP övver BAP“ zu veröffentlichen und haben ein wenig herumskizziert – plötzlich stand Heinrich Böll im Raum. Er war spürbar interessiert, gab Tipps und war absolut konstruktiv, ohne sich wichtig zu machen. Es ist ja immer so eine Sache, wenn gestandene Literaten, dir sagen, wie es zu laufen hat – dann weißt du am Ende womöglich überhaupt nicht mehr, was du selber vorhattest. Aber er hat uns quasi ausbalanciert.

Was ich wunderbar fand, denn er war mir vorher schon sehr vertraut. Meine Mutter ist fast in derselben Straße geboren und aufgewachsen. Als er 1972 den Literaturnobelpreis bekam, war meine Mutter, aber auch die ganze Südstadt, ungeheuer stolz. Ich habe damals noch gar nicht realisiert, dass es zwischen ihm und mir Parallelen gab: Er war der Erste, der in seiner Zimmermannsfamilie aufs Gymnasium gehen durfte, ich war bei uns der Erste, der studiert hat. Das verbindende Element war das Zugehörigkeitsgefühl zur „Working class“, zu Menschen, die hart arbeiten müssen. Das ging bei uns nie verloren.

Ich kenne jede Menge Verwandte von ihm, vor allem seine beiden Neffen: den leider schon verstorbenen Viktor, der das Böll-Archiv geleitet hat, und Clemens, der unsere Stammkneipe, das „Chlodwig Eck“, betrieben hat. Der Böll-Clan gehörte also quasi zu uns.

Das Nächste war dann, dass Viktor Böll und der WDR-Redakteur Herbert Hoven im November 1984 einen Film machten: „Kölner Erinnerungen aus 40 Jahren“. Dafür haben sie Heinrich Böll und mich einen ganzen Sonntag lang in seinem Haus in Langenbroich interviewt. Die Kameras haben wir irgendwann vergessen, und ich Greenhorn durfte mich mit dem Literaturnobelpreisträger unterhalten. Das war wirklich eine sehr, sehr herzliche Stimmung. Ich habe sofort gemerkt, dass er mich nicht reinlegen wollte – und er hätte mich ja nach Strich und Faden auseinandernehmen können. Aber nein, er hat Kette geraucht, zugehört, die richtigen Fragen gestellt und mir so die Möglichkeit gegeben, mich zu definieren. Er war interessiert an mir. Dazu muss man wissen, dass er mit dem bräsigen, vereinnahmenden Karnevals-Kölsch riesige Probleme hatte. Auch wenn er im rheinischen Tonfall gesprochen hat und den Dialekt der Südstadt beherrschte. Es war eine große Ehre, dass er durch unseren Umgang mit der Mundart muttersprachlich quasi wieder nach Hause gefunden hat. Sein Lieblingslied war „Ruut-wieß-blau querjestriefte Frau“ – da hat er sich vor Lachen regelrecht weggeworfen. Wenn wir das spielen, sehe ich ihn oft vor mir; rauchend und mit diesem wunderbaren, gütigen Lachen.

Augenblick voller Glücksgefühl

Das Glücksgefühl, diese Erfahrung mit ihm machen zu dürfen, habe ich an Bölls 25. Todestag im Lied „All die Aureblecke“ festgehalten, in dem auch andere wichtige Augenblicke meines Lebens auftauchen. Erst später wurde mir klar, dass das der Maxime von Hans Schnier, dem Protagonisten aus „Ansichten eines Clowns“ entspricht: „Ich bin ein Clown […] und sammle Augenblicke“. Traurig war, dass er schon am 16. Juli 1985 gestorben ist. Wir hatten vor, noch mehr miteinander zu machen. Dann kam sein Krankenhausaufenthalt wegen der Behandlung seines Raucherbeins. Und irgendwann sagte Viktor: „Der will nicht mehr.“ Seine angeborene Schwermut hat ihn immer mehr überwältigt. Er wollte nicht mehr gesund werden. (Aufzeichnung: Jörg-Peter Klotz)

Zwei kritische Geister

  • Heinrich Böll, geboren am 21.12.1917, stieg aus einfachen Verhältnissen zum einflussreichsten Schriftsteller der Bundesrepublik auf. Seine ersten Werke gelten als Trümmerliteratur, befassen sich mit Heimkehr und Wiederaufbau. Die größten Erfolge folgen später („Ansichten eines Clowns“ (1963), „Gruppenbild mit Dame“ (1971). 1972 erhält er den Literaturnobelpreis. Der scharfe Kritiker der Nachkriegspolitik, erbitterte Gegner der „Bild“-Zeitung, im Streit aus der Kirche ausgetretene Katholik und die frühe Leitfigur der Friedensbewegung stirbt am 16. Juli 1985.
  • Wolfgang Niedecken wurde am 30. März 1951 in Köln geboren, wo er 1976 die Kölschrock-Band BAP gründete. Seitdem ist er einer der erfolgreichsten und politisch engagiertesten deutschen Musiker.
  • „Eure Ruinen waren unsere Spielplätze“, das Gespräch Niedecken/Böll, auf der Homepage des WDR zum Anhören bereit: http://bit.ly/2oYO9Ij

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen