Mannheim. Am Ende sind Triumph und Hoffnung geradezu physisch greifbar. Beim mitreißenden jiddischen Lied „Mir lebn ejbik, mir zenen do“ (Wir leben ewig, wir sind da) singt und klatscht das Publikum begeistert mit. Und die zuvor zitierten Worte der 2021 mit 96 Jahren verstorbenen Sängerin und Auschwitz-Überlebenden Esther Bejarano „Wir erinnern um zu verändern“ hallen nach im Studio Werkhaus des Nationaltheaters.
Erinnern wollen die vier Schauspiel-Musiker Leonard Burkhardt, Torsten Knoll, Antoinette Ullrich und Larissa Voulgarelis mit Liedern zum Gedenken an Betroffene rechter und rassistischer Gewalt: „Als wäre es gestern gewesen“. Verändern will Regisseurin Ay?e Güvendiren auf diese Weise die Erinnerungskultur, bei der die Täter keinen Platz erhalten. Mit ihrem Team hat sie Überlebende und Angehörige der Opfer gebeten, die verlorenen Menschen zu beschreiben, eigene Erinnerungen an sie in Worte zu fassen und jeweils ein Lied auszusuchen, um ihrer gemeinsam mit dem Publikum zu gedenken. So kommen uns jene Menschen näher, die etwa den perfiden Anschlägen in Solingen, Mölln, Lübeck, Köln und Nürnberg zum Opfer gefallen sind.
Theatralisch umgesetzt ist das auf denkbar einfachste Weise. Bilder werden auf ein Sammelsurium von hellfurnierten Möbeln (Bühne: Theresa Scheitzenhammer) projiziert, O-Töne der Hinterbliebenen eingespielt, die Übersetzungen der Liedtexte laufen auf Monitoren mit und unter Zuhilfenahme von Karteikarten moderieren Larissa Voulgarelis, Antoinette Ullrich und Leonard Burkhardt ihre Infotexte.
Aber jedesmal wenn sie unter der fulminanten musikalischen Leitung von Torsten Knoll beginnen Musik zu machen, dann zaubern sie. Lieder, nachdenklich, poetisch, heiter, traurig, kämpferisch, mitreißend. Hauptsächlich gesungen auf Türkisch. Allein, zu zweit, mehrstimmig, begleitet vom Klavier, angereichert mit diversen Instrumenten. Musikalisch einfach bestechend, atemberaubend! Und das Publikum - auch einige Opfer-Angehörige sind dabei - geht begeistert mit. Besonders natürlich, wenn Tarkans Hit „??mar?k“ performt wird. Zu „Saigon ist so schön“ wird getanzt, dass auch das eine oder andere Bein im Publikum zuckt. Antoinette Ullrich und Larissa Voulgarelis zelebrieren Sagopa Kajmers Hiphop-Song „Galiba“ bewundernswert und bei Leonard Burkhardts „Nothing“ von Sammy Baker fühlt sich gar nichts kalt an, wie der Text behauptet - ganz im Gegenteil!
Am treffendsten bringt wohl der Song „Ich bin wie die Welle des Meeres“ das Anliegen dieses ungewöhnlichen und in jeder Hinsicht würdevollen Liederabends auf den Punkt. Er deckt sich auch mit den Worten der im letzten Jahr verstorbenen bewundernswerten Mevlüde Genç aus Solingen: „Die Grausamen sollen sich nicht freuen, dass ich gestorben bin. Ich bin und bleibe unbesiegt. Ich bin die Liebe der morgigen Tage.“
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/kultur_artikel,-kultur-angehoerige-von-opfern-bestimmen-das-programm-am-nationaltheater-mit-_arid,2153190.html