Ein neuer Roman von Amélie Nothomb ist immer ein Ereignis, auch wenn es nicht ihr letzter, der wunderbare Vaterroman „Premier sang“ ist, der gerade auf Deutsch erscheint, sondern der 27. ihrer insgesamt 30 veröffentlichten Romane: „Ambivalenz“. In Wirklichkeit hat die französische Starautorin aber schon 105 Romane geschrieben, drei bis vier sind es pro Jahr, von denen sie zum Leidwesen ihres französischen Verlegers nur einen veröffentlicht. All diese Romane, die sie in einem ungewöhnlichen Schreibritual erschafft – jeden Morgen ab 4 Uhr in einem Schreibdress, der japanischen Strahlenschutzanzügen gleicht, immer mit der Hand – sind nämlich ihre Kinder, vaterlos, aber alle gleichermaßen geliebt. Sie lebt in einem eigenen literarischen Kosmos. Ständig schwanger, erschreibt sie sich fabelhafte Amélie-Welten voller Sprachwitz und Magie.
Seit 30 Jahren ist sie eine Art Stern am Autorenhimmel, seit ihrem ersten, mit 25 veröffentlichten Roman, erscheint in Frankreich zuverlässig jeden September ein Buch von ihr, taucht sie ebenso zuverlässig auf den Listen der großen Buchpreise auf. Ihre Bücher erreichen immer Millionenauflagen, sind Bestseller, ihre Fangemeinde ist riesig. Wie ein Rockstar inszeniert, ist sie längst Kultfigur und Schulbuchklassiker in einem.
Viel Autobiografisches
Schrill die Stimme, schräg die Outfits, scharfzüngig die Rede – so kennen wir sie auch hier: Ihre überdimensionalen Hüte, ihren Look zwischen Schneewittchen und Gothic Queen, ihre Jabots très 18ème, den blutroten Mund, die Vampirbemalung. Die französischen Ausgaben zieren die wunderbarsten Fotos ihres Selbstentwurfs.
Zum Gespräch aber erscheint sie Anfang des Monats in Paris ungeschminkt, schlicht gewandet, dafür ausgesprochen liebenswert und zugewandt. Sprühend vor Vitalität und Witz erzählt sie von ihren prägenden Kinderjahren in Japan, ihren Gefährdungen und Abgründen, ihrem Belgischsein, ihren Spaziergängen auf Pariser Friedhöfen, ihrer Liebe zur Musik, ihrem geliebten Vater und ihrer Trauerarbeit nach seinem Tod.
Die meisten ihrer Bücher haben autobiografischen Charakter, sind Reflex und Verarbeitung einer außergewöhnlichen Biografie. Aufgewachsen in Fernost als Tochter eines berühmten Diplomaten, der der erste diplomatische Vertreter Belgiens unter Mao war, lernt sie Europa, in diesem Fall Belgien und Brüssel, erst mit 17 Jahren kennen, da ist sie schon längst in einem Circulus vitiosus aus Einsamkeit, Magersucht und Schreibmanie gefangen, nachzulesen in „Böses Mädchen“.
Sie ist ein außergewöhnliches, fast autistisches Kind, das lange die Welt nur mit großen runden Augen aufsaugt, nachzulesen in „Metaphysik der Röhren“. Verlustängste prägen sie früh, die Erfahrung, alle drei Jahre wieder alles aufgeben und neu anfangen zu müssen, ist bestimmend. Sie hat sich mit Hilfe der Literatur am Leben gehalten: Schon als kleines Kind lernt sie Wörterbücher auswendig, mit 15 übersetzt sie ein Drittel der „Ilias“, mit 17 entdeckt sie Nietzsche und Rilkes Brief an einen jungen Dichter, der ihr den Weg zum Schreiben weist. Nun also ihr schräger Familienroman „Ambivalenz“, in dem wir bekannte Ingredienzien aus ihrem Werk finden: ein hochbegabtes, einsames Kind, ein Monster von Ehemann und Vater, tödliche Beziehungen, nachgetragene Liebe, Rachefeldzüge und Todeswünsche, dazu Champagner, Parfüm und Suspense sowie messerscharfe Dialoge und eine unerwartete Auflösung.
Den Vater töten
Das Personal ist wie immer überschaubar: ein Mann, zwei Frauen, ein Kind. Ein Mann wirbt um eine Frau, nachdem ihn eine andere abserviert hat. Ein Kind leidet. Obwohl ausgefallene Vornamen eine Spezialität der Autorin sind, siehe all die Prétextat, Plectrude und Pannonique, haben wir es diesmal mit gewöhnlichen geschlechtsneutralen Vornamen zu tun: Claude und Dominique, die Namen der Hauptfiguren, können für Mädchen und Jungen stehen.
Da Vornamen für Amélie Nothomb so etwas wie der Schlüssel zur Person sind, stehen sie hier für die Durchschnittlichkeit und Banalität der Figuren. Dann gibt es noch Reine, die Königin, eine moderne Herzogin von Guermantes, deren Freundschaft Dominique sucht und deren Rolle lange unklar bleibt, sowie Épicène, die den Hass ihres Vaters auf sie erwidert und mit elf Jahren beschließt, ihn irgendwann zu töten.
Für die lange Wartezeit davor hat die Autorin ein Bild aus dem Tierreich gefunden: „Es gibt einen Fisch namens Quastenflosser, der über die Fähigkeit verfügt, sich jahrelang auszuschalten, wenn sein Biotop allzu lebensfeindlich wird. Er überlässt sich dem Tod, bis die Umstände seine Wiederauferstehung erlauben.“ Wie er begeht Épicène einen unsichtbaren Suizid, klammert sich selbst aus …
Warum Claude, der doch unbedingt Kinder wollte, seine so sehr begabte Tochter hasst, wird dem Leser lange nicht klar und macht einen Teil der Spannung aus. Warum er seiner Frau Dominique, die er mit Champagner und Chanel Nr. 5 stürmisch umworben hatte, nach der Heirat das Leben zur Hölle macht, erschließt sich ebenso wenig.
Unvermittelt wird Claude dann auf einmal zum großzügigen Ehemann, der seine Frau verwöhnt, diesmal gleich mit drei Chanel-Kostümen zum Flakon. Dominique führt auf einmal das Leben der verwöhnten Rive-gauche-Gemahlin – bis zum großen Knall. Danach absolviert Épicène in der Provinz ein Englischstudium, schreibt ihre Abschlussarbeit über das Verb „to crave“, was so viel heißt wie „verzweifelt nach etwas verlangen“. Aber wonach?
Monströses neben Erhabenem
Amélie Nothomb hat viel von Alfred Hitchcock, ihrem Lieblingsregisseur, gelernt. Der Leser könnte, wäre er aufmerksam, die Wahrheit dank vieler Indizien deutlich früher entdecken. Filmreif ist die Szene, wie die naive Dominique sich mit Chanel Nr. 5, das ihr Claude, der unheimliche Verführer, genauso wie seine Person aufgedrängt hat, selbst erotisiert und damit etwas erlebt, was sie für Liebe hält …
Wieder einmal ist die Nothomb’sche Hölle die Familie, aufgebaut auf Lüge, Gewalt und Manipulation. Die Risse vertiefen sich fast unmerklich, bis es zu unerhörten Gewaltausbrüchen kommt, eine ewige Martyriologie. Wie bei ihrem Lieblingsmaler Hieronymus Bosch gibt es auch bei Amélie Nothomb das Monströse neben dem Erhabenen, das Groteske neben der vollkommenen Schönheit, das Komische neben dem Tragischen: ein eigener Kosmos, eine unverkennbar eigene Welt, ein sehr eigener Ton. Einmal mehr: Chapeau, Amélie!
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