Freiburg. In der katholischen Kirche in Baden hat es weitaus mehr sexuellen Missbrauch durch Priester gegeben als bisher offiziell bekannt ist. Zudem sind solche Fälle über Jahrzehnte hinweg vertuscht, strafrechtliche Ermittlungen behindert und auch keine kirchenrechtlichen Konsequenzen gezogen worden. Das ergibt der Bericht der Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs in der Erzdiözese Freiburg, die sich vom Bodensee bis nach Tauberbischofsheim erstreckt und rund 1,8 Millionen Katholiken umfasst.
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Bislang war man von Anfang 1946 bis Ende 2015 von 190 Beschuldigten, die meisten von ihnen Priester, sowie mindestens 442 Opfern ausgegangen. Nun rechne man mit über 540 Betroffenen und mehr als 250 beschuldigten Geistlichen sowie 38 weiteren mutmaßlichen Tätern, die keine Priester, sondern Diakone oder andere kirchliche Mitarbeiter sind. Auch diese Zahlen seien noch „mit erheblicher Vorsicht“ zu betrachten, so der Vorsitzende der Aufarbeitungskommission, Magnus Striet. Dies sei „nur das Hellfeld“, doch gebe es noch ein erhebliches Dunkelfeld nicht bekannter Fälle.
Dabei war es nicht Aufgabe der Kommission, nun genau solche Vorkommnisse zu schildern oder zu benennen, in welchen Pfarreien sich die Taten zugetragen haben. Vielmehr ging es um die Untersuchung der Strukturen, die den Missbrauch und die mangelnde Ahndung möglich machten. Dazu untersuchte eine Arbeitsgruppe aus pensionierten Richtern und Kriminalbeamten seit 2019 alle Akten - und entdeckte, dass wichtige Teile vernichtet worden waren. Striet sprach daher von einer „Mammutaufgabe“.
„Beispiellose Ignoranz“
Im Ergebnis stellte er „toxische Strukturen“ fest, erklärte er. Es habe im Erzbistum systematisch eine „erhebliche Vertuschung“ selbst dann noch gegeben, als der Papst verlangt habe, bekanntgewordene Fälle von Missbrauch nach Rom zu melden. Auch Strafverfolgung durch staatliche Behörden sei verhindert, kirchliches Recht ignoriert worden „Es ging um Systemerhalt“, so Striet.
Dabei erhoben die beiden Vertreter der Arbeitsgruppe „Machtstrukturen und Aktenanalyse“, Eugen Endress und Edgar Villwock, harte Vorwürfe gegen die ehemaligen Erzbischöfe Oskar Saier (1978-2002) und seinen Personalreferenten Robert Zollitsch, der dann 2003 bis 2013 sein Nachfolger und zudem von 2008 bis 2014 Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz war. Saier habe „eine beispiellose Ignoranz“ an den Tag gelegt, so Endress. Auch in der Ära Zollitisch habe das Schicksal der Betroffenen „über Jahre hinweg überhaupt keine Rolle gespielt“, beklagte Villwock. Unter dem derzeit amtierenden Erzbischof Stephan Burger habe sich „vieles zum Besseren gewendet“, so Endress. Bei ihm gebe es „keine Unterlassungen“, er hätte nur „ein paar Fälle besser dokumentieren und überwachen müssen“, meinte Endress.
„Wir werden aus den Fehlern der Vergangenheit lernen. Wir werden strukturelle Schwachstellen beseitigen“, sagte Erzbischof Burger in einer ersten Reaktion zu. Seinen Vorgängern warf er klar Versagen vor. „Dahinter stand ein nach heutiger Sicht falsch verstandener Korpsgeist“, beklagte Burger. Ob gegen Zollitsch kirchenrechtliche Konsequenzen zu ziehen seien, entscheide allein der Papst. „Die notwendigen Maßnahmen dazu sind eingeleitet“, kündigte Burger an.
Zollitsch, der seit wenigen Wochen in einem Heim in Mannheim lebt, hatte sich schon im Oktober öffentlich per Video entschuldigt, er habe „Fehler gemacht“. Nun wollte er aber nichts mehr sagen. Nun habe er sich „aus Rücksicht auf die Betroffenen Schweigen auferlegt“.
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