Die Enttäuschung ist heftig. Anfang Februar 2003 streicht die Stuttgarter Landesregierung die lange zugesagte Sanierung des Schlosses. Dabei sollte die Wiederherstellung des Mittelbaus der kurfürstlichen Residenz das Geschenk des Landes zum Stadtjubiläum 2007 werden. Der Barockbau würde sein ursprüngliches Gesicht zurückerhalten, denn beim Wiederaufbau nach dem Krieg waren nur flach geneigte Satteldächer erstellt worden. In den Mansard-Dächern über dem Mittelbau sollte eine neue Unibibliothek entstehen, darunter in der Beletage ein Schlossmuseum und weiteren rekonstruierten historischen Räumen. Aber Stuttgart sagt plötzlich ab.
„Schwierige Haushaltlage“ – diese Begründung wird immer wieder angeführt zu Beginn des Jahrzehnts, bei Stadt und Land. Die Steuereinnahmen brechen ein, die Zahl der Arbeitslosen steigt, ebenso die der Sozialleistungsbezieher. Die Stadt streicht oder kürzt Zuschüsse an freie Träger, baut Stellen ab, dennoch durchbricht der Schuldenstand von Stadt und städtischen Betrieben 2003 die Milliardengrenze. Erst als die Stadt einen Teil ihrer Aktien an der MVV verkauft (16,1 Prozent), kann sie Schulden abbauen und wieder etwas investieren. Bis die Konjunktur 2006 wieder anspringt, bleibt es schwierig.
Aber es gibt Hoffnung – dank privater Mäzene. Beim Schloss ist es die Stiftung von SAP-Mitgründer Hasso Plattner. „Dabei hat die ,MM’-Berichterstattung über das Thema geholfen“, sagt der baden-württembergische Finanzminister Gerhard Stratthaus, denn Plattner habe sich selbst gemeldet, als er den Bericht über den Stopp der Baupläne las. Er spendet zehn Millionen Euro für die neue Universitätsbibliothek – und setzt das Land so unter Zugzwang, auch in historische Räume und Schlossmuseum zu investieren. Im März 2007 wird es eingeweiht. „Ein großer Tag für Mannheim, die Region und ganz Baden-Württemberg“, sagt Ministerpräsident Günther Oettinger dazu. „Mannheim hat sein Schloss wieder!“, ergänzt Stratthaus.
Nach 24 Jahren endet die Ära von Oberbürgermeister Widder
Und nicht nur beim Schloss ist es ein privater Gönner, der eine große Investition ermöglicht. Bereits 2001 eröffnen zwei Millionen Euro an privaten Spenden die Chance zum Bau des Chinesischen Gartens mit Teehaus im Luisenpark. 2002 ist es SAP-Mitbegründer und Adler-Sponsor Dietmar Hopp, der den Weg zum Bau der Arena frei macht und damit nicht nur dem Mannheimer Eishockey zum gewaltigen Aufschwung verhilft, sondern auch dem Kulturleben – denn damit wird Mannheim zum Ort der Tourneen großer Stars.
Hopp finanziert den Bau zinslos vor und betreibt die Halle während der ersten 30 Jahre auf eigenes Risiko. In dieser Zeit zahlt die Stadt 70 Millionen Euro in Raten an Hopp zurück; dann fällt ihr die Arena zu. Die beiden Trainingshallen finanziert Hopp selbst, die ganze Infrastruktur einschließlich neuer Stadtbahnstrecke wiederum die Stadt. Der 2005 fertiggestellte Neubau im Bösfeld ist zunächst heftig umstritten, weil hier Feldhamster leben. Für die wird ein bis heute laufendes Zuchtprogramm auf Ausgleichsflächen bei Straßenheim gestartet, das Stadt und Land jährlich über 160 000 Euro kostet – bis heute.
Arena, Schloss, Teehaus – die Liste großer Projekte, für die Mäzene Geld geben, ist damit nicht zu Ende. Die 2003 gegründete Popakademie, in dieser Form einmalig, wird außer von Land und Stadt zudem von Rundfunksendern und der Musikindustrie mitfinanziert. Zur Einweihung des Neubaus im Jungbusch kommt im Oktober 2004 nicht nur Ministerpräsident Erwin Teufel, sondern auch Rockstar Udo Lindenberg. „Ihr habt hier ein dolles Ding hingestellt“, gratuliert er zu der Einrichtung.
Als besonders großzügig erweist sich Unternehmer Curt Engelhorn, bis zum Verkauf 1997 an Roche Geschäftsführender Gesellschafter von Boehringer Mannheim. 2001 gründet er die mit zunächst 20 Millionen Euro – die später aufgestockt werden – ausgestattete Curt-Engelhorn-Stiftung. Sie fördert die Reiss-Engelhorn-Museen (zuvor Reiß-Museum) und ebnet so den Weg zum Ausbau des einstigen Stadtmuseums zum international anerkannten Ausstellungs- und Forschungskomplex, den Generaldirektor Alfried Wieczorek vorantreibt. Zahlreiche neue Forschungsinstitute sowie viele spektakuläre kulturhistorische Sonderschauen sind das Ergebnis. 2004 bis 2007 erbringt noch die Aktion „Zaster fürs Zeughaus“ vom Fördererkreis über 2,5 Millionen Euro für Umbau und Erweiterung des Museums Zeughaus C 5, die rechtzeitig zum Stadtjubiläum fertig wird.
Das andere große Mannheimer Museum macht dagegen weniger positive Schlagzeilen: die Kunsthalle. Als 2002 der langjährige Direktor Manfred Fath in Ruhestand geht, wird aus Frankfurt Rolf Lauter als Nachfolger geholt. Aber es gibt Ärger wegen überzogener Etats, Eigenmächtigkeiten sowie wegen des 2006 gestohlenen „Spitzweg“-Bildes. Anfang 2007 entzieht die Stadt Lauter die Zuständigkeiten für die Finanzen, im Oktober 2007 wird er als Direktor der Kunsthalle ganz abberufen, dann als – da unkündbarer Beamter – Sachbearbeiter ins Kulturamt versetzt. Lauter tritt diese Stelle lange nicht an, sondern meldet sich krank. Erst im Januar 2009 erscheint er zum Dienst, stimmt aber bald darauf der Aufhebung des Beamtenverhältnisses zu. Als seine Nachfolgerin kommt 2008 Ulrike Lorenz, die sofort für einen Kunsthallen-Neubau wirbt.
Schon zuvor, nämlich 2005, wird mit Generalintendantin Regula Gerber erstmals eine Frau an die Spitze des Nationaltheaters berufen. Sie folgt auf Ulrich Schwab, der das Haus neun Jahre lang geprägt, verstärkt in die Stadt geöffnet, freilich auch manchmal heftig polarisiert und Kräche provoziert hat. In seiner Ära wird zum ersten Mal Wagners „Ring des Nibelungen“ in nur einer Saison neu einstudiert (auch das mit Hilfe vieler privater Spenden, unter dem Motto „Kohle für den Ring“ gesammelt) sowie das marode, zu kleine Werkhaus durch einen Neubau ersetzt. Freilich bleibt Gerber nicht lange. Anfang 2012 meldet sie sich krank, wird dann wegen Burnout aus ihrem Vertrag entlassen.
Doch die allerwichtigste Personalie des Jahrzehnts sind nicht die Leiter von Kulturinstitutionen, sondern ihr Chef: Kulturbürgermeister Peter Kurz tritt 2007 die Nachfolge von Oberbürgermeister Gerhard Widder an. Nach 24 Jahren im Amt kandidiert er nicht mehr, und parteiintern setzt sich Kurz gegen den SPD-Fraktionsvorsitzenden im Gemeinderat, Frank Mentrup durch – der 2013 Oberbürgermeister von Karlsruhe wird. Kurz siegt im Juni mit 50,5 Prozent bereits im ersten Wahlgang, was damals als Sensation gewertet wird – obgleich die Wahlbeteiligung mit 36,6 Prozent so niedrig wie noch nie bei einer OB-Wahl nach dem Krieg ausfällt. Sein schärfster Konkurrent, der Karlsruher CDU-Bundestagsabgeordnete Ingo Wellenreuther, erzielt lediglich 32,1 Prozent. Widder wird höchst emotional verabschiedet und zum Ehrenbürger ernannt.
Zuvor hat er im letzten Teil seiner Amtszeit aber noch einige Projekte zu realisieren – und auch Kämpfe für Mannheim auszufechten. Ein großes, rein städtisches Bauprojekt ohne private Mäzene ist die Erweiterung des Rosengartens. Ab 2002 diskutiert, ist die Finanzierung lange unklar und ein kommunalpolitischer Streitpunkt. Im Januar 2004 fällt die Entscheidung im Gemeinderat mit 27 zu 21 Stimmen, die Einweihung im Dezember 2007 nimmt dann schon Widders Nachfolger Kurz vor. Das Kongresszentrum gewinnt durch eine Aufstockung und eine Verdopplung der Foyerflächen beiderseits des Mozartsaals doppelt so viel Ausstellungsfläche, drei neue Säle, einen Hörsaal und zwölf neue Konferenzräume hinzu, und gleich zum Tag der offenen Tür strömen über 10 000 neugierige Besucher.
Anerkennung als Europäische Metropolregion
Bauverzögerungen gibt es indes bei „Mannheim 21“, wie das Großprojekt zur Bebauung ungenutzter Flächen der Bahn sowie der ehemaligen Gießerei von John Deere anfangs genannt wird. 2001 entsteht zwar der mit 97 Metern imposante Büroturm der Victoria-Versicherung in rekordverdächtiger Bauzeit von nur 20 Monaten. Für viele weitere Vorhaben dieser, so Widder, „wichtigsten städtebaulichen Entwicklung neben dem Stadtjubiläum 2007“ fehlt aber der Stadt zunächst das Geld, und ohne Infrastruktur können die geplanten Büro- und Wohnhäuser im später „Glücksteinquartier“ genannten neuen Teil des Lindenhofs nicht wachsen. Erst im Herbst 2009 gehen die Bauarbeiten südlich des Hauptbahnhofs los.
Mit der Bahn liegt Mannheim ohnehin lange im Clinch. Bahnchef Hartmut Mehdorn weckt Befürchtungen, er wolle Mannheim vom ICE-Netz abkoppeln. Man könne „nicht an jeder Milchkanne“ halten, sagt er 2000 – und löst einen Proteststurm aus. Der „Mannheimer Morgen“ startet daraufhin mit dem Raumordnungsverband sowie dem Wirtschaftsforum Rhein-Neckar einen Appell „Mannheim darf nicht abgehängt werden“, den binnen weniger Wochen 100 700 Menschen unterzeichnen. Das sei „Ausdruck des Bürgerprotests in der ganzen Region“, so der stellvertretende Chefredakteur Michael Schröder, als er in Berlin die zahlreichen Unterschriften an Mehdorn übergibt. Direktor Klaus Fischer vom Raumordnungsverband hat zudem die Resolutionen von vier Land-, fünf Stadtkreisen sowie 42 Städten und Gemeinden der gesamten Region im Gepäck, die ebenso ihre Besorgnis über die Trassenpläne der Bahn ausdrücken. Alle mögliche Strecken zu untersuchen, lasse er sich „von keinem Regionalpolitiker verbieten“, antwortet Mehdorn.
2007 startet der „Mannheimer Morgen“ erneut eine große Unterschriftenaktion. Im Mai 2007 hatte sich der ehemalige DaimlerChrysler-Konzern von seinem amerikanischen Unternehmensteil getrennt, wollte nur noch „Daimler“ heißen. Den Aufruf „Kein Daimler ohne Benz“ unterschreiben rund 45 000 Bürger und demonstrierten eindrucksvoll, wie sehr sie sich mit der von Benz in Mannheim ausgehenden Erfindung identifizieren. Aber die Anteilseigner entscheiden anders: Das Unternehmen heißt nur noch Daimler AG – ab 2019 doch wieder Mercedes-Benz.
Für die ganze Region gibt es in diesem Jahrzehnt viele äußerst bedeutende Daten – denn sie rückt spürbar zusammen. Am 14. Dezember 2003 beginnt, nach über 30-jähriger (!) Planung, der S-Bahn-Verkehr. „Ein Jahrhundert-Ereignis“, jubelt Oberbürgermeister Widder. Neben die Konrad-Adenauer-Brücke wird dazu eigens eine neue Brücke für zusätzliche Gleise gebaut. Am 1. März 2005 gründen fünf Nahverkehrsunternehmen von Mannheim, Heidelberg und Ludwigshafen die Rhein-Neckar-Verkehr (RNV), um den Nahverkehr zu verbessern. Am 26. Juli 2005 unterzeichnen die Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, und Rheinland-Pfalz und Hessen den Staatsvertrag zur Gründung der Europäischen Metropolregion Rhein-Neckar, der eine bessere Zusammenarbeit über Ländergrenzen möglich macht. „Seit Napoleon der größte Fortschritt in der Region“, freut sich Bürgermeister Wolfgang Pföhler, Vorsitzender des Raumordnungsverbandes und mit BASF-Vorstand Eggert Voscherau entscheidender Motor der Idee.
Ein Meilenstein für die Mannheimer Innenstadt ist im Juli 2001 der Beginn der Videoüberwachung, wodurch die stark wachsende Straßenkriminalität eingedämmt wird. Allerdings beginnt mit der Schließung von Sport Marquet und des Spielwarenhaus Vedes (beide 2000), des Medienhauses Prinz und des Süßwarengeschäfts Eisinger (beide 2001), des Porzellanhauses Manz (2004) und des Kaufhauses Karstadt (2008) auch ein Niedergang des Einzelhandels.
Hoffnung macht dagegen, dass Diringer & Scheidel 2009 ankündigt, die Quadrate Q 6 und Q 7 für 250 Millionen Euro neu entwickeln zu wollen. Es ist das größte Projekt in der Innenstadt seit dem Bau des kurfürstlichen Schlosses. Realisiert wird es im neuen Jahrzehnt.
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