Zäsuren für die Welt und für Deutschland

Terroranschlag vom 11. September 2001, Wechsel von Papst Johannes Paul II. zu Benedikt XVI. und die Wahl von Angela Merkel zur ersten Frau im Kanzleramt – die 2000er Jahre bewegen bis heute

Lesedauer: 

Wenn man einen solchen Artikel schreibt, mit dem in das betreffende Jahrzehnt eingeführt werden soll, dann kommt natürlich die Frage auf: Wie illustriert man ihn? Beim Jahrzehnt der 2000er, die viele auch die Nuller-Jahre nennen, liegt die Antwort auf der Hand: Es sind die Anschläge vom 11. September 2001 in New York. Rückblickend wirken diese Ereignisse noch und gerade im Jahre 2024 wie ein Menetekel für das internationale Geschehen seither.

Der Tod kommt aus dem Himmel: Islamistische Terroristen, seit vielen Jahre zuvor übrigens in Hamburg zu Hause, lenken zwei Passagierflugzeuge in die beiden Türme des World Trade Centers in New York, ein weiteres in das Pentagon, das US-Verteidigungsministerium in Washington. Der vierte Flieger soll in das Weiße Haus stürzen, doch dieses Vorhaben scheitert: In der Gewissheit zu sterben, begehren die Passagiere gegen die Entführer des Flugzeuges auf, das auf freiem Felde abstürzt.

Es entstehen Bilder, die sich ins kollektive Bewusstsein der Welt einbrennen: Hochhäuser, die wie Schornsteine qualmen und in sich zusammenbrechen; Menschen, die hilflos aus den Fenstern der Wolkenkratzer hängen; das brennende Pentagon, eigentlich der sicherste Ort der Welt; der erst acht Monate im Amt befindliche US-Präsident George Bush, der von dem Einschlag erfährt, als er in einer Schule einer Aufführung von Kindern lauscht, nun den regungslosen Schrecken jedoch sichtbar im Gesicht – bis er die Air Force One besteigt, in der er am Himmel bleibt, bis die Lage am Boden sicher scheint.

3000 Menschen sterben. Erstmals seit dem japanischen Überfall auf Pearl Harbor 1941 werden die USA auf eigenem Boden attackiert. Der Bündnisfall der NATO tritt in Kraft. Das hat Folgen.

Zwei Kriege in Nahost und eine internationale Bankenkrise

Schnell wird klar, dass die radikal-islamischen Taliban in Afghanistan Unterstützer des Terrors sind. Die Welt muss den Namen eines Mannes kennenlernen, der als der Kopf gilt: Osama bin Laden. Am 7. Oktober schlägt das Imperium zurück: Die US-Intervention in Afghanistan beginnt, von westlichen Ländern unterstützt, auch von der Bundesrepublik. „Die Freiheit Deutschlands wird am Hindukusch verteidigt“, formuliert Peter Struck, Verteidigungsminister der rot-grünen Koalition, die seit 1998 in Berlin regiert. Besonders für die Grünen wird der Krieg in Afghanistan zur erneuten innerparteilichen Zerreißprobe.

Nicht dabei ist Deutschland dagegen beim zweiten US-Krieg gegen den Terror, und zwar den im Irak. George Bush bezichtigt den Diktator Saddam Hussein, den Terror zu befördern und Massenvernichtungswaffen zu produzieren. Dafür gibt es keine Beweise, daher machen Deutschland und Frankreich nicht mit, Großbritannien unter Tony Blair aber schon. Diese „Koalition der Willigen“ stürzt Saddam, der untertaucht, aber aufgespürt und gehängt wird.

Ruhe im Irak oder in der Region bringt das nicht. Im Gegenteil: Der islamistische Terrorismus in Europa eskaliert. Es kommt zu Anschlägen: am 11. März 2004 in Madrid mit 193 Toten und am 7. Juli 2005 mit 52 Toten, dazu jeweils mehrere Hundert Schwerverletzte.

Die zweite globale Krise ist eine ökonomische. Der Zusammenbruch der Lehmann Bank in New York führt zu einem internationalen Finanzchaos. Banken, die zuvor unverantwortlich gezockt haben, werden, um ihre systemrelevante Funktion zu erhalten, mit Milliarden von Steuergeldern gerettet – für deutsche Banker ohnehin nur „Peanuts“, wie man erfährt. Für den Steuerzahler, der dafür berappen muss, bleibt die Abwrackprämie, die den Kauf von Neuwagen ankurbeln und damit die ebenfalls leidende Autoindustrie retten soll.

Neben den menschengemachten Katastrophen gibt es Leid, das die Natur verursacht: Am zweiten Weihnachtstag 2004 ergießt sich ein Tsunami über den Indischen Ozean und die Länder an seinen Küsten. Schätzungsweise 300 000 Menschen sterben, das Schicksal vieler ist bis heute ungeklärt. Aber auch ein einziges Leben kann für ein Drama stehen. 2006 gelingt einer jungen Frau namens Natascha Kampusch in Österreich die Flucht, nachdem sie acht Jahre lang in einem Keller gefangen gehalten wird. Oder Hannelore Kohl: Gepeinigt von einer schmerzhaften Lichtallergie, die sie in ein Dasein in der Dunkelheit zwingt, nimmt sich die Frau von Ex-Kanzler Helmut Kohl 2001 das Leben.

Menschliche Dramatik in ganz anderer Hinsicht: Nach langem Leiden, in den letzten Tagen sogar medial begleitetem Siechtum, stirbt Papst Johannes Paul II. nach einem viertel Jahrhundert auf dem Stuhle Petri nach Ostern 2005. Nachfolger wird völlig überraschend Joseph Ratzinger, Präfekt der Glaubenskongregation, der „Panzerkardinal“ aus Deutschland. „Wir sind Papst!“, lautet die Schlagzeile der BILD-Zeitung, die in die Mediengeschichte eingeht.

Politische Zeitenwende auch in den USA. 2009 wird Barack Obama der erste afroamerikanische Präsident der USA. Den grassierenden Rassismus in seinem Lande wird dies nicht mindern.

Auch in Deutschland kommt es zu einem Wechsel. Die Bundestagswahl 2002 gewinnt noch die rot-grüne Koalition unter Bundeskanzler Gerhard Schröder. Sein Plädoyer für ein Heraushalten aus dem Irak-Krieg und seine demonstrative Empathie für die Opfer der Jahrhundertflut in Ostdeutschland, symbolisiert durch publikumswirksame Vor-Ort-Besuche in Gummistiefeln, sorgen für einen knappen Sieg über den Unions-Kanzlerkandidaten Edmund Stoiber.

Zum Verhängnis wird der Koalition die Wirtschaftslage. Schröders „Agenda 2010“ mit den nach dem VW-Personalvorstand benannten Hartz-Reformen zeigen zwar langfristige Erfolge, entfremden jedoch einen großen Teil der SPD-Stammwählerschaft von ihrer Partei. 2005 verliert Rot-Grün die Mehrheit. Da FDP-Chef Gudio Westerwelle es ablehnt, als Mehrheitsbeschaffer zu dienen und es für ihn und die CDU nicht reicht, bleibt alleine eine Große Koalition, auch wenn das mancher nicht wahrhaben will. Legendär am Wahlabend die „Elefantenrunde“, in der Schröder einer sichtlich konsternierten Angela Merkel entgegegenwirft: „Glauben Sie im Ernst, dass meine Partei auf ein Gesprächsangebot von Frau Merkel eingeht, in dem sie sagt, sie möchte Bundeskanzlerin werden. Also, wir müssen die Kirche doch auch mal im Dorf lassen.“

Die junge CDU-Vorsitzende wird seine Nachfolgerin, gewählt auch von seiner Partei. Die erste Frau in diesem Amt, eine neue Anrede bürgert sich ein: „Frau Bundeskanzlerin“. Von vielen unterschätzt, wegen ihrer anfänglichen Frisur sogar verächtlich gemacht, begründet sie mit einem gelassenen Politikstil, für den ihre zur Raute geformten Hände zum Symbol werden, eine Ära deutscher Politik. Diese wird 16 Jahre währen und Ende 2021 den von ihrem „Entdecker“ Helmut Kohl aufgestellten Amtszeiten-Rekord nur um zehn Tage verfehlen.

Das Handy wird Smartphone und damit zum Computer

Unterhalb des Radarschirms, über dem sich „Mutti“ schon um alles kümmert, verändert sich das Leben der Menschen rasant. Das Internet wird privat und im Beruf zum Alltagswerkzeug. Der Mobilfunk verändert sich auch qualitativ: 2004 wird das Handy zum Smartphone und damit zum mobilen Computer, 2007 setzt das i-Phone von Apple den Standard. Soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter finden umfassende Verbreitung, Youtube wird zur allgemeinen Plattform. Am 15. Januar 2001 wird die Online-Enzyklopädie Wikipedia begründet und degradiert die noch in vielen Wohnzimmern ruhenden Brockhaus-Wälzer zum bloßen Schmuckobjekt und zum Relikt vergangener Zeiten.

Dabei sind Bücher keineswegs out. Erfolgsautor Ken Folletts Werke werden immer dicker, Harry Potter und der Herr der Ringe sorgen für einen Siegeszug des Fantasy-Genre nicht nur auf dem Buchmarkt, sondern auch in Filmen.

Im Fernsehen sind die öffentlich-rechtlichen Sender inzwischen fast zu Spartenkanälen degradiert, die siegreichen Privaten punkten mit Casting- und Reality-Shows, von denen Big Brother sich über ein Jahrzehnt hält. Und an denen auch Politiker nicht mehr vorbeikommen, wie FDP-Chef Westerwelle zeigt, als er den „Container“ besucht. Die Sendung „Wer wird Millionär?“ zählt zu den erfolgreichsten weltweit und verhilft einem noch nicht so bekannten Günter Jauch zum Durchbruch.

Das Fernsehen insgesamt verliert seine Bedeutung für die Musikwelt. Muss man als Schlagersänger in den 1970er Jahren in der „Hitparade“ und als Popstar der 90er auf MTV präsent sein, so zählt ab dem Jahr 2000 nur das Internet. Das kostenlose Downloaden von Musik tritt jedoch an die Stelle von Tonträgern wie CDs und DVDs und lässt den Musikmarkt in seiner bisherigen Struktur zusammenbrechen. Für Musik-Akteure wie Sänger oder Gruppen werden Live-Acts wie Konzerte von zentraler Bedeutung, daher ihre akustische und optische Ausgestaltung immer gigantischer.

Neue Musikstile gewinnen an Bedeutung, wie etwa der Hip-Hop. „Ghetto Rapper“ wie Sido und Bushido werden zu Stars ihres Genres – trotz oder eher wegen der öffentlichen Kritik an ihren Kraftausdrücken und den Minderheiten diskriminierenden Texten. Auch der Soul wird en vogue, mit der jungen Amy Winehouse als seiner Ikone, in Deutschland aber durch zwei Künstler just aus Mannheim: Xavier Naidoo und Laith Al-Deen. Und das auf Deutsch.

Überhaupt wird die deutsche Sprache in der Musikwelt wieder präsenter – dank neuer Bands wie „Wir sind Helden“, „Juli“ und „Silbermond“ oder den unkaputtbaren „Ärzten“ und den „Toten Hosen“. Zu den politischen Botschaften ihrer Texte bilden die „Böhsen Onkelz“ das Kontrastprogramm und finden trotz aller Kritik oder gerade deswegen treue Fangemeinden, ablesbar an Aufklebern auf Auto-Heckscheiben.

Mancher Musikstil wird auch prägend für die Mode. Basecaps und andere Mützen zu tragen, wird für Fans Pflicht auch zu Hause und im Klassenzimmer. Luftiger geht es dagegen an anderen Stellen des Körpers zu: Die Hosen erhalten in Höhe der Knie große Löcher, die Socken enden nach dem Knöchel, und das natürlich und erst recht im Winter.

Zur schönsten Nebensache der Welt: 2006 ist Deutschland Ausrichter der Fußball-WM – wie Frank Beckenbauer & Co. das schaffen, wird erst später Gegenstand der Betrachtung. Zwar wird das Team unter Bundestrainer Jürgen Klinsmann lediglich Dritter nach Weltmeister Italien und Vize Frankreich, doch löst der Event in Deutschland eine Stimmung aus, die als „Sommermärchen“ in die Annalen eingeht. Meere von schwarz-rot-goldenen Farben wehen – und verängstigen nicht, sondern begeistern. Einer der wenigen Lichtblicke in den so schwierigen Nullerjahren.

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen