Debatte

Ist jeder Mensch traumatisiert, Frau Charf?

Wir können uns oft nicht an sie erinnern, aber sie prägen unser gesamtes Leben: Traumata, die wir in der Kindheit erlebt haben. Ein Gastbeitrag

Von 
Dami Charf
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Wer in der Kindheit Einschneidendes erlebt hat, trägt das oft auch als Erwachsener noch mit sich herum. © istock

Es sind zwei Themen, die uns alle betreffen, auch wenn wir uns dessen oft nicht bewusst sind: Entwicklungstrauma und frühe Verletzungen. Diese Aspekte können unser Leben tief beeinflussen, selbst wenn wir uns nicht daran erinnern können.

Meistens denken wir bei dem Begriff „Trauma“ an gravierende Ereignisse wie Gewalt, Missbrauch oder schreckliche Katastrophen. Dabei liegt der Fokus oft auf dem sogenannten Schocktrauma, das ein singuläres Ereignis im Leben darstellt. Das Entwicklungstrauma wird aber häufig übersehen, obwohl immer mehr Psychologen und Neurowissenschaftler hier eine verdeckte Epidemie unserer Zeit vermuten – mit weitreichendem Einfluss auf unser Leben und unsere Gesellschaft.

Die Gastautorin

Dami Charf, geboren 1964, ist Soziale Verhaltenswissenschaftlerin, Psychotherapeutin, Trauma-Aktivistin und zweifache Spiegel-Bestsellerautorin.

Dami Charf arbeitet seit 25 Jahren körperpsychotherapeutisch und hat inzwischen ihre eigene bindungs- und haltungsorientierte Methode „Somatische Emotionale Integration“ entwickelt.

Sie lebt und arbeitet in Göttingen und stellt ihr Wissen im Internet, Onlinekursen oder in Seminaren vielen Menschen zur Verfügung.

Weitere Infos unter: www.damicharf.com und www.traumaheilung.de.

Ein Entwicklungstrauma entsteht durch frühkindliche Verletzungen, die oft weniger offensichtlich sind als die traumatischen Ereignisse, an die wir normalerweise denken. Es kann sich bilden, wenn Babys nicht genügend Bindung erfahren, sich nicht gesehen oder gehört fühlen, oder wenn es zu Bindungsunterbrechungen kommt, wie zum Beispiel längere Krankenhausaufenthalte.

Auch, ob unsere Eltern fähig waren einfühlsam zu sein oder selbst sehr unruhig oder eigene unbewältigte Traumata in sich trugen, kann eine starke Auswirkung auf unser späteres Leben haben.

In den ersten Lebensjahren sind wir als Babys vollkommen von unseren Bezugspersonen abhängig, um unsere inneren Zustände zu regulieren. Babys kommen sehr unvollkommen auf die Welt und brauchen für alles Unterstützung. Man spricht davon, dass Babys in einen erweiterten Uterus geboren werden und dort weiterwachsen und sich entwickeln müssen.

Ein Entwicklungstrauma entsteht durch frühkindliche Verletzungen, die oft weniger offensichtlich sind

Babys können ihre Gefühle und Impulse nicht selbst steuern und benötigen die Unterstützung von außen, um sich zu beruhigen. Fehlt diese Regulation oder erhalten wir zu viele Reize, kann dies Auswirkungen auf die Entwicklung unseres Nervensystems haben, insbesondere auf den präfrontalen Cortex, der für die Regulation unserer Emotionen verantwortlich ist.

Ein Baby braucht ständig diese Unterstützung von außen, auch wenn es schreit, kann es sich nicht selbst beruhigen, da das Nervensystem noch nicht voll ausgebildet ist und es sich noch nicht selbst beruhigen kann! Leider sind immer noch veraltete Vorstellungen im Umgang mit Babys in der Welt, die zu viel Leid führen.

Die wichtige Fähigkeit der Selbstberuhigung lernen wir nur durch die beständige Zuwendung und Regulation unserer Eltern. Aber auch Glück und Freude müssen wir durch unsere Eltern lernen, in dem sie mit uns lachen und spielen. Selbst die Fähigkeit, uns auf etwas fokussieren zu können, lernen wir nur durch unsere Eltern.

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Das Problem für viele Menschen besteht darin, dass wir uns an diese Phase nicht aktiv bewusst erinnern können. Unser biografisches Gedächtnis bildet sich erst ab dem dritten bis vierten Lebensjahr aus. Daher müssen wir uns auf die Erzählungen anderer verlassen oder können höchstens einzelne Bilder oder Gefühle haben, die wir nicht in eine zeitliche Reihenfolge einordnen können.

Wir können allerdings an der Qualität unseres Lebens Rückschlüsse auf diese erste Zeit ziehen. Leider ist das Vorurteil, dass die Kindheit „an allem Schuld“ ist, zu vielen Teilen wahr. Als Erwachsene müssen wir dann schauen, wie wir die Folgen und Spuren integrieren und bewältigen können. Wir sind nicht schuld an dem, was wir erlebt haben, aber wir sind verantwortlich dafür, was wir heute daraus machen.

Da frühkindliche Verletzungen nicht bewusst in Erinnerung gerufen werden können, führt dies manchmal dazu, dass Menschen Schwierigkeiten in ihrem Leben haben, ohne genau zu wissen, warum. Das Fehlen bewusster Erinnerungen kann dazu führen, dass die Bedeutung und Auswirkungen dieser frühkindlichen Erfahrungen abstrakt und schwer fassbar bleiben oder komplett unterschätzt oder bagatellisiert werden.

Leider ist das Vorurteil, dass die Kindheit an allem Schuld ist, zu vielen Teilen wahr

Das Bedürfnis nach Bindung und die Sehnsucht, gesehen und angenommen zu werden, sind grundlegende Aspekte der menschlichen Existenz. Wenn wir in der frühen Kindheit nicht genug Aufmerksamkeit und liebevolle Zuwendung erfahren haben, kann dies zu einem Gefühl der Einsamkeit und Unsicherheit führen. Solche Unsicherheiten in der Kindheit können sich später in Beziehungsproblemen äußern, da wir möglicherweise dazu neigen, uns auf unsichere oder ungesunde Beziehungen einzulassen, oder sehr viel Nähe brauchen oder diese vermeiden.

Ein Entwicklungstrauma beeinflusst unser Nervensystem, was zu einem verengten sogenannten „Window of Tolerance“ führen kann. Dies ist der Bereich, in dem wir uns sicher und ausgeglichen fühlen. Innerhalb dieses Toleranzfensters können wir empathisch und einfühlsam sein, wir können uns selbst reflektieren und fühlen uns verbunden und sicher. Das Toleranzfenster ist die maßgebliche Grundlage für ein erfülltes Leben, da es vorgibt, wie gut wir uns physiologisch und psychisch regulieren können.

Je weniger Menschen gut reguliert sind, desto mehr erleben sie sich als „anders“, haben das Gefühl, dass die Welt ein feindlicher Ort ist und beziehen vieles auf sich, was dann zu Wut oder Resignation führt. Entwicklungstraumata sind die Grundlage vieler psychischer Symptome, von Reizbarkeit zu Ängsten, Depressionen, Schlaflosigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten und vielem mehr. Doch auch der Hang zu polarisierendem Denken, schwarz-weiß Denken und dem Suchen von Schuldigen hat oft etwas mit den nicht bearbeiteten Verletzungen unserer Kindheit zu tun.

Die gute Nachricht ist, dass es möglich ist, diesen Mustern zu begegnen und unser „Window of Tolerance“ zu erweitern. Mit einer ganzheitlichen Herangehensweise und Unterstützung können wir uns selbst besser verstehen, die Auswirkungen unserer frühkindlichen Erfahrungen auf unser Leben erkennen und an unserer Selbstregulierung arbeiten.

Es ist wichtig, zu verstehen, dass auch scheinbar harmlose Ereignisse – aus der erwachsenen Perspektive – in der frühen Kindheit einen starken Einfluss auf unsere Entwicklung haben können. Wenn wir uns bewusst mit unserer Vergangenheit auseinandersetzen, können wir uns auf den Weg der Heilung und inneren Stärke begeben.

Es ist wichtig zu verstehen, dass auch scheinbar harmlose Ereignisse einen starken Einfluss haben können

Entwicklungstrauma ist eine Herausforderung, die viele von uns betrifft, auch wenn wir uns dessen nicht immer bewusst sind. Aber indem wir uns mit dieser Thematik auseinandersetzen und uns mitfühlend und liebevoll uns selbst gegenüber verhalten, können wir unseren Weg zur Heilung und einem erfüllten Leben finden. Es ist nie zu spät, um uns selbst besser zu verstehen und unsere Lebensqualität zu verbessern.

Die Integration von Traumata ist einer der wichtigsten Voraussetzungen, um weiter in einer Gesellschaft zu leben, die unterschiedliche Meinungen zulassen und respektieren kann und um eine Gesellschaft zu erschaffen, wo Menschen miteinander freundlich und wertschätzend umgehen und die fähig ist, die großen Probleme unserer Zeit gemeinsam anzugehen.

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