Mannheim. Während der Pandemie geriet die psychische Gesundheit von Schülerinnen und Schülern in den Fokus. Auslöser waren auch die großangelegte COPSY-Studie (Corona und Psyche) und alarmierende Berichte von Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten und -therapeutinnen. Die COPSY-Studie zeigte, dass die psychischen Auffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen dramatisch zugenommen haben. Vor der Pandemie waren etwa jedes fünfte Kind, jede fünfte Jugendliche betroffen. Inzwischen weisen schon jedes dritte Kind und jede dritte Jugendliche ernstzunehmende Symptome auf.
Praxistaugliche Ansätze
Die pandemische Lage und ihre Einschränkungen gehören nun der Vergangenheit an. Die psychische Gesundheit der Kinder sollte uns jedoch weiterhin am Herzen liegen. In diesem Beitrag möchte ich einen Einblick in den derzeitigen Stand geben. Viel wichtiger erscheint es mir jedoch, einige praxistaugliche Ansätze für Eltern, Lehrer und Lehrerinnen sowie allen anderen zu vermitteln, die Kinder begleiten. Insbesondere nehme ich die Grundschulkinder in den Blick. Abschließend möchte ich Handlungsempfehlungen für die Politik, Medien und Wissenschaft geben.
„Besonders hat es die Kinder getroffen, deren Eltern weniger Zeit, Geld, Platz in der Wohnung und Bildung haben"
Fragt man in den Grundschulen nach, so hört man vielfach, dass die Kinder nicht mehr die Gleichen seien wie vor der Pandemie. Viele von ihnen, so berichten Lehrkräfte, seien weniger motiviert, trauten sich weniger zu und zögen sich zurück. Die Beobachtungen decken sich mit den Befunden der großen Studien. Diese zeigen, dass vor allem depressive Symptome, psychosomatische Beschwerden sowie Ängste und Sorgen zugenommen haben. Diese Symptome betreffen Kinder aller Schichten, aber besonders stark hat es die Kinder getroffen, deren Eltern weniger Ressourcen haben, also weniger Zeit, Geld, Platz in der Wohnung und Bildung.
Soziale Nähe als wesentlicher Schutzfaktor
Die Gründe für den Anstieg der psychischen Symptome sind sicherlich nicht allein in der Pandemie zu finden, wenngleich diese einen bedeutenden Einfluss hatte. Im Sinne des Infektionsschutzes war es für gewisse Zeit notwendig, dass wir physische Distanz hielten. Allerdings nannten wir es „Social Distancing“ und praktizierten nicht nur physische, sondern auch soziale Distanz.
Soziale Nähe und soziale Interaktionen sind für uns Menschen ein wesentlicher Schutzfaktor. Sie schützen uns bei Stress und in belastenden Zeiten davor, psychisch zu erkranken und stärken unser Immunsystem. Eine zu starke Reduzierung sozialer Kontakte kann insbesondere Depressionen, psychosomatische Beschwerden und Ängste fördern. In Krisenzeiten suchen Menschen naturgemäß mehr Nähe. In der Pandemie war das nicht gut möglich. Besonders gelitten haben die Kinder.
Das Bedürfnis nach einem sicheren Hafen
Krisen, wie wir sie seit einiger Zeit vermehrt erleben – zum Beispiel Krieg, Inflation, Klimakrise –, gehen ebenfalls nicht spurlos an den Kindern vorbei. Sie haben das Potenzial, Sorgen, Ängste und Hilflosigkeitserwartungen zu verschärfen. Manche Sorgen der Eltern übertragen sich auch ungewollt auf die Kinder. Sichere und gute Bindung zu den Eltern oder anderen wichtigen Bezugspersonen sind ein wichtiger Schutzfaktor. Bindung wirkt wie ein sicherer Hafen.
Die Einschränkungen der Pandemie und die wachsenden Geldsorgen führen zu einem spürbaren Anstieg der Konflikte innerhalb von Familien. Eltern, die stark mit sich und ihren Konflikten beschäftigt sind, können häufig das Bedürfnis nach einem sicheren Hafen nicht befriedigen. Aber auch organisatorische und zeitliche Erschwernisse, etwa veränderte Arbeitszeiten, hatten und haben einen Einfluss.
Der Gastautor
- Marcus Eckert (48) ist Professor für Schul- und Entwicklungspsychologie an der Apollon Hochschule in Bremen.
- In seinem aktuellen Buch „Krisen machen Angst. Wie Unterricht in schweren Zeiten ermutigen kann“ (Beltz Verlag) setzt er sich damit auseinander, wie Kinder und Jugendliche in Krisenzeiten stark gemacht werden können.
- Die praxistauglichen Ansätze sind für Lehrkräfte geschrieben, aber auch für Eltern können von ihnen profitieren.
- Weitere Infos über den Autor und aktuelle Hinweise gibt es hier.
Ein weiterer wesentlicher Baustein einer gesunden psychosozialen Entwicklung von Kindern ist der Kontakt mit Gleichaltrigen, das Miteinanderspielen und das gemeinsame Ausprobieren. Diese Gemeinsamkeit war nicht nur durch die Einschränkungen der Pandemie reduziert, sondern auch die zunehmende Zeit an digitalen Endgeräten sorgt dafür, dass weniger Zeit für das klassische gemeinsame Spiel zur Verfügung steht. Das kann sich negativ auf die psychische Gesundheit auswirken.
Darüber hinaus erleben sich viele Kinder zunehmend als wirkungslos. Die Welt wird komplexer, unmittelbare Wirksamkeitserfahrungen im Spiel werden weniger (wenn mehr Zeit an digitalen Endgeräten verbracht wird) und die Botschaften, die die Kinder über sich und ihre Zukunft hören, werden pessimistischer. Aussagen wie „Diese Generation wird es schwer haben“ oder „Die Kinder werden in einer Klimahölle aufwachsen“ machen ihnen sicherlich wenig Mut.
Handlungsansätze für Helfende
Was können wir tun? Die Bedeutung von echten sozialen Interaktionen und erlebter Wertschätzung ist für die psychische Gesundheit kaum zu überschätzen. Deswegen sollten wir hier zuerst ansetzen. Familien sollten regelmäßig eine gute gemeinsame Zeit erleben. Oft hilft es, diese wirklich einzuplanen. Gemeinsames Spielen, Vorlesen und vor allem Erzählen und Zuhören sind wichtig.
Eine aktuelle Studie konnte übrigens zeigen, dass das Erzählen von Geschichten dazu führt, dass das Gehirn von Kindern das Hormon Oxytocin ausschüttet. Dieses Hormon ist nicht nur für Bindung zuständig, sondern es stärkt uns auch gegen Stress und emotionale Belastungen. Erzählen Sie Ihren Kindern Geschichten oder lesen Sie welche vor, das macht sie stark.
„Die Welt wird komplexer, unmittelbare Wirksamkeitserfahrungen im Spiel werden weniger“
Eltern, die wirklich und aufrichtig an ihren Kindern interessiert sind (und dies auch zeigen), leisten einen wertvollen Beitrag. Seien Sie offen für die kleinen und großen Nöte Ihrer Kinder, ohne zu schnell Lösungen anzubieten oder die Probleme kleinzureden. Wenn Eltern einfach da sind, zuhören und verstehen, ist das oft schon genug.
Lehrerinnen und Lehrer, denen es gelingt, ein gutes Klassenklima zu etablieren und eine Vertrauensbasis herzustellen, leisten ebenfalls einen wertvollen Beitrag. In meinem Buch „Krisen machen Angst“ habe ich viele wirkungsvolle Ansätze zusammengestellt. Eine sehr einfache, aber effektive Möglichkeit für Lehrer, Lehrerinnen und Eltern besteht darin, möglichst oft Positives über andere Menschen zu erzählen. Probieren Sie es aus. Sie werden feststellen, dass sich das sehr schnell positiv auf die Atmosphäre in der Familie oder in der Klasse auswirkt.
Lob ist nicht einfach nur ein Lob
Wer das Wirksamkeitserleben von Kindern fördert, macht sie ebenfalls stark – auch gegen psychische Belastungen. Wie können Sie die Selbstwirksamkeit Ihrer Kinder fördern? Achten Sie darauf, wann den Kindern etwas gelingt. Legen Sie den Fokus auf das Gelingen. Das ist besser, als die Defizite hervorzuheben. Eltern und Lehrkräfte, die die Erfolge von Kindern auf eine oder mehrere Handlungen zurückführen, stärken das Wirksamkeitserleben. Das ist besser, als den Grund in Eigenschaften des Kindes zu suchen. Sagen wir einem Kind beispielsweise „Ich freue mich, dass du eine so tolle Mathearbeit geschrieben hast. Du bist wirklich schlau!“, hört sich das zwar schmeichelhaft an. Aber die Eigenschaft „schlau“ kann das Kind nicht beeinflussen. Es hat also nichts für den Erfolg getan. Sagen wir stattdessen „Ich freue mich, dass du eine so tolle Mathearbeit geschrieben hast. Ich habe gesehen, wie clever du dies oder jenes gemacht hast“ fokussieren wir Handlungen des Kindes, die zum Erfolg geführt haben.
Rituale für Kinder
Die Psychologieprofessorin Carol Dweck spricht von einem Growth Mindset (wachstumsorientierte Haltung). Auf diese Weise lernen die Kinder, dass Sie etwas bewegen und schaffen können. Das macht Mut. Und es macht Lust, sich einzubringen. Das ist gesund.
Weil die Kinder oft beunruhigende Nachrichten direkt oder indirekt mitbekommen, ist ein beruhigendes und positives Gegengewicht notwendig. Nehmen Sie sich regelmäßig die Zeit und schauen abends dankbar auf den Tag zurück. Vielleicht ritualisieren Sie es, dass jeder aus der Familie abends ein bis drei Dinge berichtet, die am Tag schön waren.
Studien zeigen, dass Dankbarkeit trainierbar ist und einen positiven Effekt auf die psychische Gesundheit hat. Selbstverständlich lässt sich dieses Ritual auch in den Unterricht integrieren. Lehrer und Lehrerinnen, die dies tun, werden durch ein verbessertes Klassenklima belohnt.
Ein Fazit
Die psychische Gesundheit von Kindern hat sich in Teilen durch verschiedene Entwicklungen verschlechtert. Umso wichtiger ist es, dass wir als Eltern, als Lehrer und als gesamte Gesellschaft gegensteuern. Eltern und Lehrerinnen können viele kleine, aber wertvolle Beiträge leisten. Eine kleine Auswahl habe ich hier vorgestellt.
„Die psychische Gesundheit von Kindern hat sich in Teilen durch verschiedene Entwicklungen verschlechtert“
Als Gesellschaft haben wir die Aufgabe und Pflicht, Bedingungen zu schaffen, die es allen Kindern ermöglicht, im gleichen Maße gesund aufzuwachsen. In der Pandemie haben wir einmal mehr deutlich gesehen, dass es die Kinder am härtesten getroffen hat, die ohnehin schon benachteiligt sind. Hier besteht großer Handlungsbedarf.
Als Medien, Publizierende und Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sollten wir wohlüberlegt die Worte wählen, mit denen wir die Welt und deren Zustand beschreiben. Wir sollten mahnen, wenn es zu mahnen gilt. Wir sollten es jedoch vermeiden, Szenarien zu zeichnen, die unsere Kinder rat- und hoffnungslos zurücklassen. Am Ende sind es unsere Kinder, in deren Hände wir die Welt legen werden. Und es wäre wünschenswert, wenn diese mit Hoffnung und Mut wichtige Entscheidungen treffen würden. Bis dahin müssen wir Hoffnung und Mut verbreiten – und verantwortungsvolle Entscheidungen treffen.
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