Interview

Der Ausstieg aus der Prostitution ist kein Spaziergang

Prostitution ist ein wunder Punkt der Gesellschaft, sagt Astrid Fehrenbach, Leiterin der Beratungsstelle Amalie in Mannheim. Warum viele der Frauen an Körper und Seele verletzt sind und was Amalie leistet, erklärt sie im Interview

Von 
Christine Maisch-Bischof
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Mannheim. Astrid Fehrenbach ist seit Januar 2022 Leiterin von Amalie. Im Interview blickt die studierte Sozialarbeiterin, Theologin und Betriebswirtin auf jede Menge Erreichtes zurück, aber auch auf eine Gesellschaft, die vor dem Leid und den Nöten von Frauen, die in der Prostitution arbeiten, nur all zu oft die Augen verschließt.

Frau Fehrenbach, was hat Sie an der neuen Aufgabe als Leiterin von Amalie gereizt?

Astrid Fehrenbach: Prostitution ist ein wunder Punkt in unserer Gesellschaft und spielt sich weitgehend im Verborgenen ab. Von dort dringt nur wenig nach draußen. Zwar scheint in Sachen Geschlechtergerechtigkeit vieles erreicht zu sein. Und doch gibt es in unserer Gesellschaft noch immer ein erschreckend hohes Maß an sexueller, körperlicher und psychischer Gewalt gegen Frauen und Mädchen.

Amalie-Leiterin Astrid Fehrenbach öffnet die Tür zur Beratungsstelle für Frauen in der Prostitution in der Mannheimer Neckarstadt-West. © Lisa Wazulin

Womit sie ja bei Ihrem ehemaligen Job im Frauenhaus täglich konfrontiert wurden?

Fehrenbach: Ja, ich war fast 30 Jahre in der Frauenarbeit tätig, unter anderem auch im Bereich der Häuslichen Gewalt, ich habe also vieles gesehen und erlebt. Und Gewalt ist eben leider gerade in der Prostitution ganz häufig im Spiel. Es ist wichtig, auf die Frauen zuzugehen, eine Anlaufstelle zu bieten. Mich hier einzusetzen, meine Erfahrung einzubringen und diese Arbeit mitzugestalten, hat mich sehr gereizt. Dazu kommt, dass ich mit der Neckarstadt-West verbunden bin. Ich mag den Stadtteil.

Mit all seinen Facetten?

Fehrenbach: Ja, ich habe dort längere Zeit gewohnt und ihn immer als sehr lebendig und interkulturell erlebt. Es gibt dort trotz der offensichtlichen Probleme viele sehr positive Entwicklungen, viele Initiativen. Es ist ein Ort, wo die Leute zusammenkommen.

Die Frauen kommen gerne zu Amalie und genießen die Wärme und Freundlichkeit, die sie hier erfahren
Astrid Fehrenbach

Ihr erstes Jahr als Amalie-Leiterin fiel ja noch in die Zeit der coronabedingten Einschränkungen. Online-Streetwork ist da wohl keine echte Alternative?

Fehrenbach: Nein. Das gezielte Anschreiben von Frauen, sie auf Plattformen ansprechen, in verschiedenen Sprachen, das ist zwar heute eine sehr zeitgemäße Möglichkeit, die Betroffenen zu erreichen. Aber letztendlich ist der persönliche, physische Kontakt zu ihnen unverzichtbar. Und zum Glück ist die Arbeit 2022 wieder voll angelaufen. Wir haben Hunderte von Beratungsgesprächen geführt, Behördenangelegenheiten mit den Klientinnen erledigt, unsere Ausstiegswohnung war stets voll belegt. Die Frauen kommen gerne zu Amalie und genießen die Wärme und Freundlichkeit, die sie hier erfahren.

Die jetzige liberale Gesetzeslage nimmt zu wenig die Täter und Freier in den Blick und produziert zu viele Opfer
Astrid Fehrenbach

In solch einer Atmosphäre macht sicherlich auch den Beraterinnen der Job mehr Freude.

Fehrenbach: Ja, das ist eine gute Basis für die Arbeit. Unser Team ist stabil und sehr motiviert. Dazu kommen die Ehrenamtlichen, die nicht wegzudenken sind und ohne deren Einsatz Amalie nicht Amalie wäre.

Wie hat sich die Arbeit mit Frauen, die aus der Prostitution aussteigen wollen, entwickelt?

Fehrenbach: Wir konnten im Rahmen eines EU-Projekts in den letzten eineinhalb Jahren 18 Frauen begleiten, stabilisieren und mit ihnen berufliche Perspektiven erarbeiten. Für eine gesicherte Existenz außerhalb der Prostitution. Das ist nur möglich mit zusätzlichen Personalstellen. Ausstieg ist kein Spaziergang, sondern ein langer und mühsamer Hürdenlauf, da steckt oft jahrelange Arbeit dahinter. Unser Träger, das Diakonische Werk Mannheim, bekennt sich klar zu dieser Aufgabe. So konnten wir im Januar 2023 das Aussteigerinnenprojektfortsetzen, diesmal befristet auf drei Jahre, doch leider nur zu 50 Prozent aus Fördertöpfen der EU und des Landes finanziert.

Amalie-Leiterin Astrid Fehrenbach

  • Astrid Fehrenbach, Jahrgang 1964, studierte Theologie, Soziale Arbeit und Betriebswirtschaftslehre.
  • Neben einer Mutter-Kind-Kur-Einrichtung leitete sie fünf Jahre lang ein Frauenhaus.
  • Bis 2020 leitete sie eine Einrichtung für chronisch psychisch Erkrankte.

Sind Sie nach wie vor eine Verfechterin des Nordischen Modells?

Fehrenbach: Sagen wir mal so, ich bin unbedingt eine Verfechterin des Wandels. Es muss sich etwas bewegen, denn die jetzige liberale Gesetzeslage nimmt zu wenig die Täter und Freier in den Blick und produziert zu viele Opfer. Vor allem besonders verletzliche Frauen und junge Mädchen werden in Abhängigkeiten und Ausbeutungsverhältnisse gezwungen, die sie sich niemals selbst ausgesucht hätten. Eine Orientierung bietet auf jeden Fall der Nordische Ansatz, den ja einige Länder bereits seit Jahren praktizieren und zu dem die EU Deutschland aufgefordert hat, um Menschenhandel und Zwangsprostitution zu unterbinden. Aus der Praxis kann ich sagen, dass Kernelemente des Nordischen Ansatzes wie etwa die Prävention an Schulen und ein staatlich finanziertes Ausstiegsprogramm schon heute für unsere Arbeit bei Amalie sehr hilfreich und notwendig wären.

Was würde das für die Frauen bedeuten?

Fehrenbach: Eine sichere Wohnmöglichkeit, den Zugang zum Gesundheitssystem über eine Krankenversicherung, die Möglichkeit einer Traumatherapie, um Gewalterfahrungen zu verarbeiten und eine umfassende psychosoziale Begleitung, um physisch, psychisch, beruflich und sozial wieder auf die Beine zu kommen. Für die jungen Mädchen hieße das, erst gar nicht in die Prostitution zu geraten.

Es schadet dieser Arbeit, über keine ausreichende Finanzierung zu verfügen und sich von einem befristetem Projekt zum nächsten zu hangeln
Astrid Fehrenbach

Was wünschen Sie sich für die Zukunft von Amalie?

Fehrenbach: Ich wünsche mir grundsätzlich, dass die Arbeit der Fachberatungsstellen Prostitution in eine Regelfinanzierung aufgenommen wird. Es schadet dieser Arbeit, über keine ausreichende Finanzierung zu verfügen und sich von einem befristetem Projekt zum nächsten zu hangeln. Das bedeutet eine große Anstrengung. In Mannheim hat Amalie Herausragendes geleistet und kann 2023 auf die ersten zehn Jahre zurückblicken. Das zehnjährige Bestehen ist ganz besonders den vielen Unterstützerinnen und Unterstützern zu verdanken, den Ehrenamtlichen, die diese Arbeit tatkräftig mitgestalten sowie den Spenderinnen und Spendern, ohne deren finanzielle Beiträge bei Amalie vieles nicht möglich wäre. Ich wünsche mir, dass sich die Leute auch weiterhin für Amalie und unsere Arbeit interessieren und uns treu bleiben!

Gibt es eine Betreuungssituation, die Sie im Rückblick besonders berührt hat?

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Fehrenbach: Es löst immer große Freude bei uns aus, wenn eine Frau persönliche Erfolge hat, strahlend zu uns kommt und einfach stolz auf sich ist: eine neue Arbeitsstelle ist gefunden, die Anmeldung bei einem Sprachkurs geschafft oder eine Prüfung bestanden. Besonders berührt hat mich, als wir im Frauencafé eine Party zu einem runden Geburtstag ausrichteten. Die Frau rief während der Feier ihre Mutter in Bulgarien an, weil sie sich so sehr freute. Und zu uns sagte sie mit Tränen in den Augen: „das ist die erste Feier überhaupt, die ich bekommen habe, ich bin glücklich, ich danke euch.“ Oft sind es kleine Schritte, die große Wirkung haben: ein Lächeln über Sprachbarrieren hinweg, Verständnis, aufmerksames Zuhören, Zeit geben und einen Raum anbieten, die Hand reichen auch wenn man nicht sofort helfen kann,die feste Überzeugung, dass nichts so schlecht bleiben muss wie es ist. Viele unserer Klientinnen sind verletzt an Körper und Seele. Sie brauchen Vertrauen und Zeit. Sie brauchen unsere Wertschätzung, unsere Ermutigung und unsere menschliche Solidarität. Und mit „uns“ meine ich jetzt „uns alle“ als Mitglieder dieser Gesellschaft.

Wie wichtig ist für Sie Teamarbeit ?

Fehrenbach: Mir ist sehr wichtig, dass wir uns bei Amalie als Team verstehen. Dass wir über Probleme sprechen, uns miteinander beraten und die schweren Lebensgeschichten gemeinsam tragen. Dass keine mit den Schwierigkeiten im Beratungsprozess, die sich da auftürmen, allein bleibt. Denn vieles lässt sich nicht schnell lösen und muss mit den Frauen ausgehalten werden. Wichtig ist mir auch, dass wir auf die Situation der Frauen - die ja so gut wie gar nicht öffentlich sprechen - aufmerksam machen, ihnen unsere Stimme leihen. Aufklärung und Prävention. Aus diesem Grund gibt es von Amalie immer wieder Vorträge, Lesungen und Informationsveranstaltungen. Dass dies im letzten und in diesem Jahr von einer interessierten Öffentlichkeit so gut angenommen worden ist, freut uns natürlich. Auch die Ausstellung „gesichtslos - Frauen in der Prostitution“, die wir in viele Städte und Landkreise verleihen, ist ein anhaltend großer Erfolg und zieht viele Kreise.

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