Mannheim. Die deutsche Energiewende beschäftigt insbesondere die Rhein-Neckar-Region. Denn spätestens 2034 muss das Grosskraftwerk Mannheim (GKM) den traditionellen Betrieb einstellen. Möglicherweise ist auch schon früher Schluss, sagt einer der führenden unabhängigen Experten. Von Martin Geiger
Herr Löschel, wie viel Prozent der Energiewende haben wir bereits geschafft?
Andreas Löschel: Es hat sich zuletzt einiges bewegt, aber wir stehen noch ziemlich am Anfang. Im Stromsektor haben wir Erfolge beim Ausbau der Erneuerbaren erzielt. Aber in den Bereichen Wärme und Verkehr sieht es deutlich schlechter aus. Auch bei der Energieeffizienz passiert zu wenig. Wenn man die Energiewende unter dem Aspekt der Klimaneutralität betrachtet und die CO2-Emissionen von 1990 als Maßstab nimmt, haben wir nicht mal die Hälfte geschafft. Der zweite Teil wird aber erheblich schwerer.
Die EU hat in ihrem „Green Deal“ das Ziel ausgerufen, 2050 klimaneutral sein zu wollen. Was heißt das für Deutschland?
Löschel: Eine ganze Menge! Konkret brauchen wir mehr erneuerbare Energie und müssen den grünen Strom in die Sektoren Wärme und Verkehr bringen. Wir müssen zudem Wasserstoff nutzen und brauchen Möglichkeiten, um CO2 aus der Atmosphäre zu holen. Anders wird es mit der Klimaneutralität nicht klappen. Viele Technologien stecken aber noch in den Kinderschuhen.
Und was heißt es für die deutschen Reduktionsziele bis 2030?
Löschel: Sie müssen verschärft werden: Also eher 60 Prozent CO2 einsparen im Vergleich zu 1990. Daraus wiederum lässt sich etwa ableiten, dass wir mehr als eine Verdopplung der erneuerbaren Energien brauchen und deutlich mehr als 10 Millionen Elektrofahrzeuge auf den Straßen. Außerdem dürften die Preise für CO2-Emissionen deutlich steigen – fürs nächste Jahrzehnt auf 50 bis 60 Euro pro Tonne oder mehr. Das heißt, dass die meisten Kohlekraftwerke nicht mehr wirtschaftlich betrieben werden können: Sie dürften abgeschaltet werden – und zwar nicht erst 2038, sondern weitgehend wohl schon bis 2030.
Ist das nicht volkswirtschaftlicher Wahnsinn? Block 9 des GKM beispielsweise hat 1,2 Milliarden Euro gekostet und sollte von 2015 bis etwa 2055 laufen. Nun muss er spätestens 2034 vom Netz.
Löschel: Ja, das ist ein Problem. Tatsächlich hat der Kohleausstieg einige Unwuchten. Im Ergebnis bleiben Braunkohleanlagen tendenziell länger am Netz als Steinkohlekraftwerke. Das ist aus Klimaschutzperspektive nicht zu rechtfertigen. Und wenn neue Anlagen wie etwa Moorburg nach sechs Jahren abgeschaltet werden, um eine Stilllegungsprämie zu erhalten, ist das volkswirtschaftlich natürlich nicht sinnvoll.
Lacht sich das Ausland da nicht kaputt über uns?
Löschel: Nein, das nicht. Aber die Augenbrauen heben sich schon. Es ist natürlich etwas Besonderes, wenn ein Industrieland sowohl aus der Kern- als auch der Kohlekraft aussteigt. Darum wird die hiesige Entwicklung sehr genau beobachtet. Aber immer mehr Nationen folgen uns auf diesem Weg: Die USA wollen ihren Stromsektor bis 2035 CO2-frei bekommen, China will bis 2060 klimaneutral sein. Global tut sich zurzeit also sehr viel.
Werden wir mehr Arbeitsplätze verlieren als gewinnen?
Löschel: Die Umsetzung der Pariser Klimaziele bringt Deutschland die Chance, neue Systemlösungen und Geschäftsmodelle zu etablieren und zu exportieren. Wenn wir technisch Spitzenreiter bleiben, können wir durch die Energiewende Arbeitsplätze, Wachstum und Wohlstand schaffen. Auch der Bundesverband der Deutschen Industrie geht davon aus, dass es unterm Strich auf eine schwarze Null hinauslaufen könnte. Angesichts der globalen Entwicklung bin ich sogar optimistischer.
Was kostet uns die Energiewende?
Löschel: Das ist kaum zu berechnen, weil so viele Faktoren eine Rolle spielen. Welche Ausgaben wären im Energiebereich sonst aufgelaufen? Wie hoch sind die vermiedenen Kosten des Klimawandels? Oder wie bewertet man den Umstand, dass ohne die deutsche Förderung der erneuerbaren Energien die Photovoltaik nie so schnell den Durchbruch geschafft hätte? In vielen Ländern ist sie heute die günstigste Art der Stromerzeugung. Im Rahmen des Monitorings der Energiewende schauen wir uns daher an, was Haushalte und Unternehmen für Strom insgesamt ausgeben. Auch wenn Deutschland die höchsten Strompreise in Europa hat, ergibt sich – gemessen an der Wirtschaftsleistung und den verfügbaren Einkommen – eine relativ niedrige Belastung. Und diese ist in den letzten Jahren sogar etwas gesunken. Die Energiewende ist also bezahlbar. Es gibt aber auch Härtefälle, um die man sich kümmern muss, etwa bei der energieintensiven Industrie oder bei einkommensschwächeren Haushalten.
Und wo soll der ganze Strom nach dem Kohleausstieg herkommen?
Löschel: Hauptsächlich aus den erneuerbaren Energien, die wir viel schneller ausbauen müssen. In zehn Jahren bräuchten wir im Vergleich zu heute etwa das Dreifache an Photovoltaikanlagen. Und bei der Windkraft muss sich die Ausbaugeschwindigkeit sowohl an Land als auch auf See erheblich steigern.
Und wenn der Wind nicht weht und die Sonne nicht scheint?
Löschel: Für diese Dunkelflauten brauchen wir abgestimmte Lösungen: mehr Netzausbau, mehr Speicher und mehr Flexibilität auch auf der Nachfrageseite. Und dann brauchen wir wohl noch mehr flexibel einsetzbare Gaskraftwerke.
Und wer soll diese Gaskraftwerke bauen? In Mannheim haben die GKM-Besitzer RWE, EnBW und MVV entsprechende Pläne gerade beerdigt – unter anderem aus wirtschaftlichen Gründen.
Löschel: Ja, momentan lohnt es sich nicht, neue Gaskraftwerke zu bauen. Die Bereitstellung von flexiblen Erzeugungsanlagen wird am Markt nicht belohnt, weil es generell einfach viel Strom gibt. Aber wenn die Kohlekraftwerke Schritt für Schritt vom Netz gehen und die CO2-Preise steigen, könnte sich das ändern.
Müssen wir uns Sorgen um die Versorgungssicherheit machen?
Löschel: In der kurzen Frist nicht. Aber spätestens ab 2025 müssen wir uns intensiv mit diesem Thema befassen. Deutschland muss perspektivisch mehr auf die Versorgungssicherheit achten, wenn der Netzausbau nicht entschlossen angegangen wird und die regionale Flexibilität nicht erhöht wird.
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