Ratgeber

Wenn das Trinkgeld digital wird

Trinkgeld geben bei Kartenzahlung? Das wird zunehmend üblich. Worauf Verbraucherinnen und Verbraucher achten sollten.

Von 
Svenja Bergt
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Auf dem Display eines Kartenlesegerätes in einem Café werden anwählbare Trinkgeld-Optionen angezeigt. © picture alliance/dpa

Berlin. Immer mehr Zahlungen werden per Karte abgewickelt - auch in Restaurants und Bars. Die Gastronomen stellen sich darauf ein und nutzen Geräte, bei denen die Gäste direkt nach dem Vorhalten oder Einstecken der Karte die Höhe des Trinkgelds auswählen sollen. Was diese Entwicklung bedeutet und worauf Verbraucher achten sollen.

Was ändert sich gerade bei der Trinkgeldkultur?

„Stimmt so“, „Einfach aufrunden bitte“ oder „Der Rest ist für Sie“ - diese Sätze werden nach einem Essen im Restaurant oder bei der Bestellung an der Bar immer seltener gesagt. Der Grund: Auch wenn Deutschland im internationalen Vergleich immer noch ein Bargeldland ist, steigt der Anteil an Zahlungen, die per Karte, Smartphone oder Smartwatch abgewickelt werden. Laut einer jährlichen Umfrage der Bundesbank lag die Bargeldquote beim Bezahlen in Deutschland 2008 bei 83 Prozent, im vergangenen Jahr waren es nur noch 51 Prozent. Vor allem jüngere Menschen sind Treiber der Entwicklung, sie zahlen häufiger bevorzugt bargeldlos.

Zahlungsdienstleister reagieren auf diesen Trend und bieten Geräte an, deren Software die Gäste direkt beim Bezahlvorgang auswählen lässt, wie viel Trinkgeld sie geben möchten. Müssen sich bar bezahlende Gäste also aktiv entscheiden, Trinkgeld zu geben, ist es auf dem digitalen Weg umgekehrt: Das Geben von Trinkgeld wird zum Standard, wer davon abweichen will, muss die Option extra abwählen. „Dass man aktiv nach Trinkgeld gefragt wird, ist ein neues Phänomen“, sagt Sascha Hoffmann, Professor für Betriebswirtschaftslehre und Online-Management an der Fresenius-Hochschule. Er beobachtet, dass das Phänomen der Trinkgeld-Taste, wie sie mittlerweile auch mitunter genannt wird, seit dem vergangenen Jahr in relevantem Maßstab zu sehen ist.

Wie funktioniert das mit dem Trinkgeld bei Zahlung per Karte oder Smartphone?

Je nach den Software-Einstellungen bietet der Zahlungsterminal, also das kleine Gerät, in das die Karte eingesteckt oder drangehalten wird, mehrere Auswahlmöglichkeiten an. Voreingestellt sind unterschiedliche prozentuale Höhen, etwa 7, 10 und 12 Prozent oder 10, 15 und 20 Prozent. Umfragen zeigen immer wieder, dass in Deutschland Trinkgeldbeträge zwischen 5 und 10 Prozent üblich sind. Die voreingestellten Angebote sind also häufig höher als das, was Gäste in der Regel von sich aus geben würden. Kunden kritisieren zudem immer wieder, dass die Option, kein Trinkgeld zu geben, häufig nicht direkt sichtbar ist.

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Ein weiterer Kritikpunkt lautet, dass nicht nur Restaurants, Bars, oder Taxifahrer per Zahlungsterminal nach Trinkgeld fragen, sondern auch Imbisse, Feinkostläden oder Bäckereien. Das bestätigt auch Forscher Sascha Hoffmann: „Man wird jetzt auch in Situationen nach Trinkgeld gefragt, wo das Geben von Trinkgeld bislang unüblich ist.“

Bar oder Karte - welchen Unterschied macht das?

Schon ein simpler Bezahlvorgang löst im Gehirn unterschiedliche Mechanismen aus, je nachdem, ob er bar oder mit Karte abgewickelt wird. „Es ist weniger schmerzhaft, per Knopfdruck das Trinkgeld vom Bankkonto abbuchen zu lassen als das Bargeld aus dem Portemonnaie verschwinden zu sehen“, sagte Steve H. Hanke, Professor für Angewandte Wirtschaftswissenschaften an der Johns-Hopkins-Universität gegenüber dem ZDF. Und das Wort „schmerzhaft“ lässt sich hier durchaus wörtlich nehmen: Die Forschung hat Hinweise darauf, dass beim Barzahlen ein Teil des Gehirns, der für die Verarbeitung vom Schmerzen zuständig ist, stärker aktiv ist, als beim bargeldlosen Zahlen. Es ist plausibel, dass dieser Effekt auch für das Trinkgeldgeben gilt. Was das Trinkgeld angeht, sagt Hoffmann: „Bargeldlos Zahlende geben seltener Trinkgeld.“ Dahinter müsse nicht einmal eine bewusste Entscheidung stecken - vielleicht habe man in der Situation einfach nicht genug oder kein Bargeld dabei. Oder man verpasst es, beim kurzen Moment des digitalen Bezahlens zu fragen, wie man denn Trinkgeld geben könne. Die digitale Abfrage von Trinkgeld-Höhen sei daher auch eine Reaktion darauf.

Welche psychologischen Mechanismen wirken bei der Auswahl?

Hoffmann skizziert zwei mögliche Effekte, die sich auch vermischen können. Der erste: Bei einer Auswahl unter mehreren Möglichkeiten wirkt ein psychologisches Phänomen, die Tendenz zur Mitte. Menschen wählen demnach bei Skalen häufiger Werte aus der Mitte aus, als es statistisch erwartbar wäre. Bei den beiden genannten Trinkgeldskalen heißt das: Werden 7, 10 und 12 Prozent angeboten, werden häufiger 10 Prozent ausgewählt, als es statistisch erwartbar wäre. Bei 10, 15 und 20 Prozent wären es dementsprechend die 15 Prozent Trinkgeld.

Darüber hinaus könnte ein zweiter psychologischer Effekt wirken: der Decoy Effekt, also Köder-Effekt. Der ist ein Mittel der psychologischen Preisgestaltung, das in vielen Lebensbereichen zum Tragen kommt. Das Prinzip: Bei einer Auswahl von einem Produkt in zwei Größen wird dabei ein drittes hinzugefügt, der Köder. Der Köder liegt preislich nah an der großen Größe, bietet aber im Verhältnis weniger. Ein populäres Beispiel ist der Kauf von Popcorn im Kino. Kostet eine kleine Tüte hier vier Euro und die große neun, werden viele Menschen die große Tüte als überteuert betrachten. Fügt der Händler aber als dritte Option eine mittelgroße Popcorn-Tüte hinzu, die acht Euro kostet, also preislich nur knapp unter der großen Tüte liegt, werden mehr Kunden die größte Portion als gutes Preis-Leistungs-Verhältnis bewerten. Beim Trinkgeld könnten überhöht angesetzte Werte als Köder wirken. Das würde im Ergebnis dazu führen, dass Gäste die niedrigste Trinkgeldhöhe selbst dann als angemessen bewerten, wenn sie eigentlich vergleichsweise hoch ist - einfach dadurch, dass die anderen Prozentwerte noch höher liegen.

Ist die aktuelle Entwicklung schon eine „Tipflation“?

Das Kofferwort „Tipflation“ ist aus Inflation und dem englischen Wort für Trinkgeld (tip) zusammengesetzt. Es beschreibt das Phänomen stetig und stark steigender Trinkgelder. Seinen Ursprung hat der Begriff in den USA: Hier machen in Service-Berufen aufgrund der häufig prekären Beschäftigungsbedingungen Trinkgelder einen nennenswerten Teil des Einkommens aus. Die Tipflation in den USA geht dabei auch auf die Einführung von Software, die beim Kartenzahlen direkt nach Trinkgeld fragt, zurück. 25 bis 30 Prozent Trinkgeld gelten inzwischen vielerorts als üblich. Davon ist Deutschland allerdings noch weit entfernt.

Wie sollten Verbraucher mit der digitalen Trinkgelderwartung umgehen?

Hoffmanns wichtigster Rat: „Nicht stressen lassen.“ Zeit nehmen, überlegen, ob an dem Ort, an dem man gerade ist, überhaupt Trinkgeld üblich ist - in einer Bäckerei oder einem Feinkostladen mit Theke nämlich nicht. Und dann entscheiden, ob eine der vorgeschlagenen Trinkgeldhöhen angemessen erscheint oder man doch eine andere Summe geben möchte. In so einem Fall sollte das Personal dabei helfen, das technisch umzusetzen. Bei so einem Gespräch lässt sich auch gleich klären, ob das digital gezahlte Trinkgeld tatsächlich bei dem bedienenden Personal ankommt - oder ob es beim nächsten Besuch doch besser wäre, ein paar Münzen parat zu haben, und diese Kellner oder Kellnerin direkt zuzustecken.

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