Energie-Experte Andreas Löschel erklärt, warum sich die Gaspreise auch verdoppeln könnten, wie Deutschland sich aus der energiepolitischen Umklammerung lösen sollte und weshalb er einen Kohleausstieg 2030 für möglich hält.
Herr Löschel, Sie analysieren seit zwei Jahrzehnten die Energiemärkte. Haben Sie solche Turbulenzen wie in den vergangenen Monaten schon mal erlebt?
Andreas Löschel: Nein. Was sich derzeit abspielt, ist ohne Beispiel: Der russische Einmarsch in die Ukraine und die Drohungen mit einem Lieferstopp waren kaum vorstellbar.
Begonnen hat es aber schon vorher, oder?
Löschel: Ja, seit dem vergangenen Sommer hat sich der Gaspreis deutlich erhöht und innerhalb von kurzer Zeit sogar verdoppelt. Damals habe ich das noch für eine normale Marktbewegung gehalten, weil die globale Nachfrage nach dem Corona-Einbruch stark anstieg. Dann hat Russland aber angefangen, systematisch weniger Gas zu liefern - und ein solches russisches Teil-Embargo war besonders.
War das schon die Vorbereitung auf den Krieg?
Löschel: Anfangs habe ich noch gedacht, sie müssten zunächst ihre eignen Speicher auffüllen oder wollen wegen des damals noch laufenden Genehmigungsverfahrens für North Stream 2 Druck aufbauen. Aber als sich die systematische Verknappung in den Wintermonaten manifestiert hat und bis auf North Stream 1 die anderen Pipelines teilweise komplett abgestellt waren, war für mich das Vertrauen nachhaltig zerstört. Darum habe ich schon einige Wochen vor dem Einmarsch gesagt: Wir können so nicht weitermachen. Wir müssen unser Verhältnis zu Russland komplett überdenken.
Aber die russische Seite hat doch stets betont, dass sie sich an die Verträge hält.
Löschel: Die Verpflichtungen aus den alten Verträgen haben sie auch erfüllt - darüber hinaus aber kein weiteres Gas auf den Markt gebracht. Und das war eben nicht nur die ökonomische Gewinnmaximierung eines großer Akteurs, der systematisch Mengen zurückhält. Darum haben sich die Großhandelspreise im November ja verfünffacht, teils sogar verzehnfacht. Mittlerweile wissen wir: Russland hat das Gas auch aus politischen Gründen zurückgehalten.
Dann folgte der Einmarsch in die Ukraine: Was sollten wir nun tun?
Löschel: Wir müssen jetzt so handeln, als ob das russische Gas nicht mehr zur Verfügung stehen würde: Der Hahn kann ja jederzeit zugedreht werden - von russischer Seite oder von uns.
Bedeutet das, Sie wären für einen Boykott der Energielieferungen?
Löschel: Diese Frage sollten nicht Wissenschaftler beantworten, sondern Politiker. Denn dafür spielen neben den energiewirtschaftlichen Abschätzungen noch viele andere Faktoren eine Rolle: Welche politischen Konsequenzen hätte ein Lieferstopp? Oder: Was sind die langfristigen sicherheitspolitischen Kosten, wenn wir die Importe nicht von unserer Seite aus beenden?
Wie schlimm träfe uns das Ende der russischen Gaslieferungen?
Löschel: Das ist mit vielen Unsicherheiten behaftet. Es gibt aber mittlerweile etliche Abschätzungen, die zeigen, dass wir durch die hohen Energiepreise Einbrüche in der Wirtschaftsleistung bis zu drei Prozent befürchten müssen. Ein paar Kollegen und ich haben auch mal versucht, darüber hinaus einen Lieferstopp aus makroökonomischer Sicht zu analysieren. Dabei sind wir davon ausgegangen, dass Deutschland in diesem Fall etwa 30 Prozent weniger Erdgas zur Verfügung hätte. Der Rest, vielleicht sogar mehr, ließe sich aus unserer Sicht ersetzen.
Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?
Löschel: Das Bruttoinlandsprodukt würde um weitere etwa drei Prozent sinken. Wir sprechen insgesamt also über einen Einbruch der Wirtschaftsleistung von etwa sechs Prozent - ähnlich wie in der Corona-Krise. Deutschland wird durch ein Embargo also nicht wirtschaftlich verarmen. Das ist aber eine scharfe Rezession mit vielen Arbeitslosen und großen wirtschaftlichen Problemen. Insbesondere die Grundstoffindustrie, dazu gehört beispielsweise die BASF, wäre wohl stark betroffen, und es würde zu Produktionsrückgängen kommen. Eine wichtige Rolle hat der Staat: Unterstützt er Unternehmen und Haushalte, wäre eine temporäre Gaskrise wohl handhabbar. Und ein großer Teil der Effekte wird uns sowieso treffen! Die große Herausforderung besteht noch mehr darin, dass Energie langfristig teurer sein wird und sich die energieintensive Industrie neu aufstellen muss.
Was kann Deutschland tun, um sich aus der Abhängigkeit von Russland zu befreien?
Löschel: Es gibt nicht die eine große Maßnahme, die das Problem löst. Aber es gibt ganz viele kleine: Wir brauchen Gas aus anderen Quellen, wir brauchen vollere Pipelines und mehr Flüssiggas, und wir müssen den Sommer nutzen, um unsere Speicher zu füllen - auch wenn das sehr teuer wird.
In der Kurpfalz verwurzelt
- Andreas Löschel (50) ist Professor für Umwelt- und Ressourcenökonomik und Nachhaltigkeit an der Ruhr-Universität Bochum.
- Zuvor hatte er Lehrstühle in Münster (2014-2021) und Heidelberg (2010-2014) inne und war Forschungsbereichsleiter am Mannheimer Zentrum für Europäische Wirtschaftspolitik.
- Seit 2011 ist er Vorsitzender der Kommission zum Monitoring-Prozess „Energie der Zukunft“ der Bundesregierung.
- Löschel hat in Mannheim promoviert und wohnte lange in Schwetzingen.
Ist „Frieren für die Freiheit“ auch eine Lösung?
Löschel: Ich kann mit solchen Slogans generell nicht so viel anfangen. Aber sicherlich spielt die Nachfrageseite eine große Rolle. Haushalte, Industrie und Stromerzeugung müssen in den nächsten Monaten Energie sparen und entsprechend investieren. Vieles wird durch die hohen Preise sowieso stattfinden, denn Energiesparen lohnt sich. Aber viele Menschen haben noch gar nicht verstanden, was da auf uns zurollt.
Nämlich?
Löschel: Die Verbraucher ärgern sich gerade, weil die Gaspreise um 25 oder 30 Prozent gestiegen sind. Aber wenn die Großhandelspreise in diesem und womöglich im nächsten Jahr so hoch bleiben, war das noch längst nicht alles: Dann könnten sich die Energiepreise auch verdoppeln. Diese Verzögerung macht es schwer, den Ernst der Lage zu erfassen.
Wie bewerten Sie das Maßnahmenpaket, mit dem die Regierung auf die hohen Kosten reagiert hat?
Löschel: Es ist sehr sinnvoll, die am stärksten Betroffenen zu unterstützen. Das Paket geht da in die richtige Richtung, auch wenn etwas mehr Fokussierung besser wäre. Was fehlt, ist eine größere Unterstützung von Anstrengungen zum Energiesparen in Unternehmen und Haushalten. Was ich sehr kritisch sehe: dass jetzt Benzin und Gas günstiger gemacht werden. Das schwächt den Anreiz, weniger zu verbrauchen, und geht genau in die falsche Richtung.
Gibt es eine Chance, dass die Preise demnächst wieder sinken?
Löschel: Schwer zu sagen, weil Erwartungen dabei eine große Rolle spielen. Aktuell pumpt Russland wieder mehr Gas auf den Markt, und es ist durchaus möglich, dass wir Preise sehen, die vielen akzeptabel erscheinen. Das ist aber gefährlich: Wir müssen die nächsten sechs, sieben Monate nutzen, um uns aus der energiepolitischen Umklammerung zu befreien und für den Winter zu wappnen. Das Signal muss sein, dass die Preise absehbar hoch bleiben und Investitionen sich tatsächlich rechnen. Wenn wir uns einlullen lassen, wären wir im nächsten Winter wieder genauso ausgeliefert. Das darf nicht noch einmal passieren.
Welche Folgen erwarten Sie durch das Kohle-Embargo?
Löschel: Ganz ehrlich? Keine.
Und welche Auswirkungen hat die ganze Lage auf die Energiewende?
Löschel: Kurzfristig wird man da einiges neu justieren müssen. So macht es sicherlich Sinn, die Kohlekraftwerke, die in diesem Jahr vom Netz gehen sollten, etwas länger laufenzulassen, um Gaskraftwerke zu ersetzen. Mittel- und langfristig müssen wir aber auf jeden Fall Kurs halten, weil die Energiewende eben nicht nur aus klimapolitischer Sicht wichtig ist, sondern auch eine Versorgungssicherheitsdividende mit sich bringt.
Muss der Kohleausstieg nun nicht verschoben werden?
Löschel: In der kurzen Frist ist das wohl so, aber ein Kohleausstieg 2030 ist durchaus immer noch möglich. Das hängt aber mehr denn je daran, wie der Ausbau der Erneuerbaren vorankommt und wie die Energieeffizienz vorangebracht wird.
Aber wir brauchen doch das Gas als Übergangstechnologie, oder?
Löschel: Ja, Gas ist die zentrale Brückentechnologie für die Energiewende. Die Brücke ist aber schwer beschädigt, und einige Pfeiler dürften verschoben sein. Trotzdem wird Gas sicher noch für mehr als eine Dekade benötigt. Darum braucht es nun eine bessere Diversifizierung der Lieferländer und ein starkes Engagement beim Thema Wasserstoff.
Bei den erneuerbaren Energien hat die Ampel-Koalition ambitionierte Ziele ausgerufen: Sind diese überhaupt realistisch?
Löschel: Die neue Bundesregierung hat die wesentlichen Probleme erkannt und benannt. Grundsätzlich bin ich also zuversichtlich. Aber es ist schon so: Solche Zielsetzungen hatten wir beim Ausbau noch nie. Alleine bei der Photovoltaik sollen innerhalb der nächsten acht Jahre mehr als drei Mal so viele Anlagen neu dazu kommen, wie es heute gibt. Es muss schon alles Hand in Hand laufen, um das zu schaffen.
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