Berlin. Ein Müsli zum Frühstück: Lecker soll es sein, gern mit Früchten und gesund, also mit möglichst wenig Zucker. Wer mit dieser Erwartungshaltung in den Supermarkt geht und vor dem Cerealien-Regal stehend die Müsli-Angebote des Unternehmens Peter Kölln sieht, der wird nicht lange überlegen, zu welcher Packung er greift. Der Elmshorner Marktführer bei den Frühstücksflocken bietet zwei sehr ähnlich wirkende Früchte-Hafer-Müslis an: eines in einer ockerfarbenen Verpackung. Und eines in einer hellblauen Verpackung, an deren Rand sich ein rotes Blatt in das Auge des Betrachters wölbt: „Ohne Zuckerzusatz“ steht darauf.
Ärger bei Verbraucherschützern
Eine klare Sache, welches Produkt gesünder ist? Keineswegs. Der Zuckergehalt unterscheidet sich gerade einmal um ein Gramm, das vermeintlich gesündere Müsli enthält sogar leicht mehr Kalorien, monierte die Verbraucherzentrale Hessen, die sich nach der Beschwerde eines Verbrauchers mit dem Müsli befasste und Kölln kontaktierte.
EU sucht gemeinsames Label
- Bis 2022 will sich die Europäische Kommission auf ein einheitliches Label-System zur Nährwertkennzeichnung einigen. In Frankreich wurde der Nutri-Score 2017 eingeführt, er konkurriert mit dem italienischen Nutrinform, der Prozentangaben für Salz, Zucker und Fett angibt.
- In Italien ist die Skepsis vor dem Nutri-Score groß, da heimische Produkte wie etwa Olivenöl plötzlich ein negatives Label erhalten könnten. Schon gibt es den Ruf nach einer dritten Lösung, die ausgerechnet Großbritannien anwendet: das „Multiple Traffic Lights System“ („Mehrere-Ampeln-System“).
- Das britische Ampelsystem weist die Prozentangaben des Energie-, Fett-, Zucker- und Salzgehalts sowie den Anteil der gesättigten Fettsäuren aus. Zugleich bietet es eine farbliche Einordnung.
Die Antwort des Unternehmens: „Ohne Zuckerzusatz“ bedeute, dass kein Zucker zugesetzt wurde, der natürliche Zuckergehalt der Zutaten bleibe aber erhalten. „‚Ohne Zuckerzusatz‘ ist also nicht gleichbedeutend mit ‚Weniger Zucker‘ oder ‚Zuckerfrei‘“, schreibt der Flocken-Hersteller. Mit Täuschung habe dies aber nichts zu tun, erklärt Kölln.
Deutschlands obersten Verbraucherschützer ärgern solche Fälle. „Zu viel Zucker kann zu Übergewicht führen und krank machen. Egal, ob der Zucker nun aus Früchten oder aus der Zuckerrübe stammt“, sagte Klaus Müller, Vorstand des Verbraucherzentrale Bundesverbandes (vzbv), dieser Redaktion. Zumal der Müsli-Fall nur ein Beispiel von vielen ist. Gesunde Produkte stehen bei Kunden derzeit hoch im Kurs, bei Bio-Lebensmitteln schnellte der Umsatz im Corona-Jahr um 22 Prozent in die Höhe. Viele Unternehmen wollen von dem Trend profitieren – und preisen ihre vermeintlich gesunden Lebensmittel an. „Die süßen Versprechen der Lebensmittelwirtschaft führen Verbraucher oft auf die falsche Fährte“, warnt Müller.
Er stützt sich dabei auf eine wissenschaftliche Untersuchung der Georg-August-Universität Göttingen. Zusammen mit der Marketingberatung Zühlsdorf + Partner befragten die Wissenschaftler in zwei repräsentativen Erhebungen jeweils mehr als 1000 Verbraucher.
Die Ergebnisse zeigen: Die Masche, mit vermeintlich gesunden Slogans zu werben, zieht. Haushaltszucker bezeichnen zum Beispiel nur 4,7 Prozent der Befragten als gesund. Bei der „Traubenfruchtsüße“ sind es dagegen 35,3 Prozent, die glauben, es mit einem gesunden Produkt zu tun zu haben. Dabei sind beide Zuckerarten ähnlich problematisch.
Auch beim Müsli haben die Forscher geschaut, wie sich die Kaufbereitschaft verändert. Heißt es beim Beeren-Knuspermüsli „Ohne Zuckerzusatz. Süße nur aus Früchten“, halten es knapp 70 Prozent der Probanden für gesund. Ohne Werbespruch sind es nur 56 Prozent.
„Süßebezogene Werbeaussagen erhöhen die Kaufbereitschaft“, fassen die vier Studienautoren zusammen. „Besonders kaufaktivierend“ seien Aussagen, die auf Natürlichkeit abstellten, also etwa Werbesprüche wie „Mit Honig gesüßt“ oder „Süße nur aus Früchten“.
Die Bundesregierung hat Zucker bereits den Kampf angesagt. 2018 legte Bundesernährungsministerin Julia Klöckner (CDU) eine nationale Zuckerreduktionsstrategie vor. Am Mittwoch präsentierte Klöckner neue Zahlen: Im Vergleich zu 2016 sei beispielsweise in Nuss-Müsliriegeln der Zuckergehalt um fast 16 Prozent gesenkt worden.
Auch der Handel zieht mit. Edeka und Netto wollen etwa bis 2021 bei Süßwaren und alkoholfreien Erfrischungsgetränken den Zuckergehalt um bis zu 25 Prozent reduzieren, Kaufland will mehr als 300 Eigenmarkenartikel mit weniger Zucker versetzen, und Rewe kennzeichnet alle Eigenprodukte mit der Lebensmittelampel Nutri-Score.
Reicht das? Thomas Roeb, Professor für Handelsbetriebslehre an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, ist skeptisch. „Produkte, bei denen der Zuckergehalt wirklich reduziert wird, werden vom Kunden kaum akzeptiert“, sagte Roeb unserer Redaktion. Das Vorhaben der Händler sei ein Kampf gegen das erlernte Geschmacksempfinden der Kunden. „Sehr viel einfacher lassen sich Produkte verkaufen, die versprechen, zuckerfrei zu sein, aber aufgrund anderer Süßstoffe genauso süß bleiben“, sagt Roeb.
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