Übergewicht bei Kindern

Mannheimer Professorin: Werbeverbot für Süßigkeiten "ist eine gute Idee"

Rund jedes vierte Kind in Deutschland ist zu dick, der Bundesernährungsminister will deshalb Süßigkeiten-Werbung für unter 14-Jährige verbieten. Gesundheitspsychologin Jutta Mata erklärt, warum die Pläne aus wissenschaftlicher Sicht sinnvoll sind

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Viele Kinder können Süßigkeiten nur schwer widerstehen. © istock/Anna Logue Uni Mannheim

Mannheim. Frau Mata, die Gleichung von Bundesernährungsminister Cem Özdemir lautet: keine Süßigkeiten-Werbung mehr = weniger dicke Kinder. Ist es wirklich so einfach?

Jutta Mata: Übergewicht ist das komplexe Ergebnis von ganz vielen Faktoren. Das heißt: Um es zu verändern, gibt es nicht den einen großen Hebel, der alles löst. Stattdessen muss man viele verschiedene Hebel bewegen, und jeder einzelne wird einen kleinen Beitrag leisten.

Ein Werbeverbot für ungesunde Lebensmittel wäre also nur einer dieser verschiedenen Hebel?

Mata: Ja. Es wäre aber falsch, ihn deshalb nicht zu nutzen. Wenn man bei jedem Einzel-Faktor sagt: Der Effekt ist so klein, das macht keinen Sinn, dann kann man gar nichts verändern. Es ist aber wichtig, etwas zu tun: In Deutschland sind laut aktuellen Zahlen der Weltgesundheitsorganisation etwa 24 Prozent der Mädchen und 28 Prozent der Jungen übergewichtig – das ist gut jedes vierte Kind. Da muss man alle Hebel nutzen – und ganz besonders die, die bei der Prävention ansetzen.

Warum ausgerechnet dort?

Mata: Unser Körper ist evolutionsbedingt auf Mangel eingestellt und darauf getrimmt, jede Energie, die er bekommt, zu nehmen und zu halten. Wenn man erst einmal Übergewicht hat, ist es wahnsinnig schwer, es wieder loszuwerden. Studien zeigen: Bei übergewichtigen Erwachsenen gelingt es nur zwischen zwei und 20 Prozent, durch eine Verhaltensänderung abzunehmen – wobei abnehmen heißt, das Körpergewicht um zehn Prozent zu reduzieren und das ein Jahr zu halten. Auch bei Kindern wissen wir: Wer in jungen Jahren übergewichtig ist, hat eine hohe Wahrscheinlichkeit, das im Erwachsenenalter auch zu sein. Das heißt im Umkehrschluss: Prävention ist unsere einzige große Möglichkeit, Übergewicht in der Population zu senken.

Expertin für Gesundheit




  • Jutta Mata leitet als Professorin den Lehrstuhl für Gesundheitspsychologie an der Universität Mannheim.
  • Sie forscht unter anderem zu der Frage, wie sich Familienmahlzeiten und andere soziale Faktoren auf das kindliche Ernährungsverhalten auswirken.
  • Jutta Mata ist außerdem Co-Direktorin am Mannheim Center for Data Science.
  • Darüber hinaus ist sie unter anderem Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). tat

Das klingt schlüssig. Aber woher wissen wir, dass Werbung für Chips oder Gummibären überhaupt zum Problem beiträgt?

Mata: Damit haben sich zahlreiche experimentelle Studien beschäftigt – mit einem klaren Ergebnis: Wenn ich Kindern Werbung für ungesunde Lebensmittel zeige und sie danach wählen lasse, was sie essen, essen sie deutlich mehr davon als Kinder, die solche Werbung nicht gesehen haben. Interessant ist, dass es diesen Effekt bei Erwachsenen nicht gibt. Das zeigt: Kinder sind eine besonders vulnerable Gruppe. Sie können oft nicht zwischen Werbung und Information unterscheiden. Und klar ist auch: Wenn Werbung für Süßes oder ungesunde Snacks keine Wirkung auf das Essverhalten von Kindern hätte, würde die Wirtschaft dafür nicht Millionen Euro ausgeben.

Aber wenn ein Kind zu viel Süßes futtert – muss man nicht eher die Eltern statt die Werbung dafür verantwortlich machen?

Mata: Natürlich sind Eltern grundsätzlich für die Ernährung ihrer Kinder zuständig, aber der Einfluss hängt auch vom Alter ab. Bei Sechsjährigen kann ich das leichter kontrollieren als bei Zwölfjährigen, die Taschengeld haben. Und schauen wir uns an, wie Supermärkte gestaltet sind: Auf welcher Höhe sind Süßigkeiten platziert, wo steht die Quengelware an der Kasse? Dieses Umfeld ist von Marketingprofis designt und zielt auf alles ab, was Kinder super finden und bei dem ihre Belohnungszentren angehen. Dahinter stehen kluge Köpfe, die ein Ziel haben: möglichst viel verkaufen. Ich mache denen keinen Vorwurf, das ist ihr Job. Aber dann zu sagen: Das Individuum kann doch frei entscheiden, was es einkauft oder isst, finde ich etwas scheinheilig.

Deshalb soll also der Staat eingreifen?

Mata: Wie gesagt: Mit Kindern zielt diese Werbung auf eine vulnerable Gruppe ab – warum soll der Staat sie nicht schützen? Wir haben auch eine Anschnallpflicht im Auto oder eine Schulpflicht, das überlassen wir auch nicht der individuellen Entscheidung der Eltern. Und man muss bedenken: Die Zuckerlobby nimmt den Gewinn mit, aber die Gesellschaft trägt die oft hohen Kosten für die Gesundheitsfolgen, zum Beispiel Diabetes Typ 2. Und die körperlichen Folgen sind nur ein Punkt. Übergewicht hat für Kinder massive psychische Folgen, darüber sprechen wir viel zu wenig.

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Wie äußert sich das konkret?

Mata: Die Stigmatisierung ist teilweise enorm. Es gibt eine Studie, die Anfang der 1960er Jahre gemacht und 40 Jahre später nochmal wiederholt wurde. Dabei konnten Kinder aussuchen, mit welchen anderen Kindern sie am liebsten spielen und mit welchen weniger gerne. Zur Wahl standen sechs Kinder, unter anderem eins im Rollstuhl, eines mit einer riesigen Narbe, eines, dem ein Arm fehlte und eines mit Übergewicht. Bei der ersten Untersuchung wollten die wenigsten Kinder mit dem Kind mit Übergewicht spielen.

Wie sah es 40 Jahre später aus?

Mata: Da gingen die Autoren eigentlich von einem anderen Ergebnis aus, weil Übergewicht bei Kindern heute nicht mehr ungewöhnlich ist. Tatsächlich war das Resultat aber wieder das gleiche, der Effekt war sogar noch deutlicher. Übergewicht bei Kindern hat massive Auswirkungen – auf Freundschaften, auf das Selbstvertrauen und auf die Lebensqualität.

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Kommen wir nochmal zur Rolle der Eltern. Wie wichtig ist ihre Vorbildfunktion bei der Ernährung?

Mata: Eltern haben verschiedene wichtige Rollen, und je jünger das Kind ist, desto wichtiger sind sie. Zum Beispiel sind die Erwachsenen so eine Art Ernährungs-Türsteher: Sie entscheiden, welches Essen in den Einkaufswagen und auf den Tisch kommt. Bei Familienmahlzeiten spielt zudem das Modellverhalten der Eltern eine Rolle: Wenn sie Obst und Gemüse essen, ist das auch bei den Kindern wahrscheinlicher.

Wäre es dann nicht sinnvoller, stärker auf Aufklärung in den Familien zu setzen, zum Beispiel durch TV-Spots zwischen der Süßigkeiten-Werbung?

Mata: Das kann man natürlich versuchen. Aber das muss die Gesellschaft letztlich auch bezahlen. Klar ist: Das Budget der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, die für so etwas potenziell zuständig wäre, ist viel kleiner als das der Industrie. Das ist wie David gegen Goliath. Am Ende geht es um einen gesellschaftlichen Aushandlungsprozess: Wen möchten wir schützen und wie viel Regulation wollen wir dafür? Es gäbe ja auch noch ganz andere Instrumente, beispielsweise eine Zuckersteuer. Darüber reden wir aber gar nicht. Es geht auch nicht darum, Süßigkeiten oder Snacks zu verbieten, sondern nur darum, eine vulnerable Gruppe nicht mehr mit Werbung zu manipulieren. Wenn man das unterbinden will, ist ein Verbot aus wissenschaftlicher Sicht eine gute Idee.

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