Interview

Mafia - die "Route des Todes" führt nach Mannheim

Alessandro Bellarditas Eltern verließen Italien, als er ein Kind war. Im Interview erklärt der Experte, was das mit der Mafia zu tun hat und warum er es nicht ertragen kann, dass sie in Deutschland so sehr Fuß gefasst hat

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Walter Serif
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„Der Pate“ mit Marlon Brando idealisiert eine brutale Verbrecherbande, kritisiert Mafia-Experte Alessandro Bellardita. © dpa/Alessandro Bellardita

Herr Bellardita, gefällt Ihnen der legendäre Mafia-Film „Der Pate“?

Alessandro Bellardita: Künstlerisch schon, vor allem wegen der Musik des genialen Komponisten Ennio Morricone. Aus erzieherischer und kultureller Sicht gefällt mir der Film nicht, weil er die Mafia idealisiert.

Inwiefern?

Bellardita: Francis Ford Coppola zeigt eine noble Welt, in der sich Ehrenmänner bewegen. Dabei ist die Mafia keine ehrenwerte Gesellschaft. Das ist eine Verbrecherbande, die nur ein Ziel hat: Sie will Geld machen auf Kosten der Menschen. Deshalb müssen wir uns von diesen Klischees befreien. Sonst machen wir uns ein falsches Bild von einem Mafioso und stellen uns einen brutalen Mann vor, der eine Sonnenbrille trägt und mit einer rauchigen Stimme spricht. Dieses Bild haben oft auch die Ermittler im Kopf . . .

… die sich dann nicht vorstellen können, dass dieser harmlos aussehende Kerl …

Bellardita: … ein mieser Verbrecher ist. Das ist der Überraschungseffekt. Nach dem Motto: Wie kann der so etwas Böses tun.

Anfang der 1990er Jahre war Deutschland ein El Dorado für die Mafia. Auch Mannheim wurde zu einem Operationsgebiet und Umschlagplatz für das Drogengeschäft.

Beschäftigen Sie sich so sehr mit der Mafia, weil sie italienische Wurzeln haben?

Bellardita: Das hat natürlich dazu beigetragen, dass ich das Phänomen Mafia mit anderen Augen betrachte als ein Deutscher, der hier geboren wurde. Ich hatte einen sehr guten italienischen Lehrer in Karlsruhe. Der hat mir die Krimis von Leonardo Sciascia empfohlen, die anders als Coppola ein realistisches Bild von der Cosa Nostra auf Sizilien zeichnen. Ich habe dann meine Eltern gefragt: Kennt ihr Mafiosi? Natürlich, sagten sie. Ich habe dann erfahren, dass die Mafia in meiner Familie eine gewisse Rolle spielte. Nicht nur, weil zwei meiner Onkel auf Sizilien Polizisten waren und einer sogar enger Mitarbeiter des später ermordeten Mafiajägers Giovanni Falcone war. Nein, vor allem deswegen, weil mir mein Vater erzählte, warum wir nach Deutschland kamen, als ich erst eineinhalb Jahre alt war.

Warum denn?

Bellardita: Er arbeitete in der Baubranche. Wenn man da keine Beziehungen hatte und dieses Vitamin B nicht pflegen konnte, hatte man als Maurer keine Chance. Die Auftraggeber haben einfach nicht bezahlt!

Ihr Vater ist also vor der Mafia nach Deutschland geflohen?

Bellardita: Nicht vor der Mafia, sondern wie viele Italiener vor den mafiösen Strukturen in der sizilianischen Gesellschaft. Das ist jetzt Jahrzehnte her. Deshalb kann ich es nicht ertragen, dass die Mafia inzwischen in Deutschland so sehr Fuß gefasst und ihr Geschäftsmodell so erfolgreich exportiert hat.

Alessandro Bellardita

  • Alessandro Bellardita wurde 1981 in Modica (Sizilien) geboren.
  • Bellardita studierte an der Universität Mannheim Rechtswissenschaften. Er arbeitete danach am Amtsgericht Heidelberg und bei der Staatsanwaltschaft am Landgericht Heidelberg. Zuletzt war er in Karlsruhe Haft- und Ermittlungsrichter.
  • Derzeit ist er Dozent an der Hochschule für Rechtspflege in Schwetzingen.

Ist Deutschland ein Schlaraffenland für die Mafia?

Bellardita: Anfang der 1990er Jahre war Deutschland sogar ein El Dorado für die Mafia. Auch Mannheim wurde zu einem Operationsgebiet und Umschlagplatz für das Drogengeschäft. Zwischen dem sizilianischen Palma di Montechario und Mannheim verläuft noch heute die „Route des Todes“. Giovanni Falcones Mitstreiter Paolo Borsellino kam auf seiner letzten Dienstreise im Juli 1992 nach Mannheim, um die deutsche Spur zu verfolgen – wenige Tage danach wurde er in Palermo von der Cosa Nostra ermordet. Es gab damals viele Mafiamorde. Auch in jüngerer Zeit. 2012 wurden Giuseppe Condello und sein Fahrer in der Nähe von Palma von Kugeln durchsiebt. Er soll der Pate der Cosa Nostra von Mannheim gewesen sein. Ein Jahr später erschossen Killer ein Ehepaar im Stadtteil Kirschgartshausen. Der Vater des Mannes war Anfang der 1990er ein Opfer des Mafiakriegs in Sizilien geworden.

Ist die Mafia in Deutschland, weil hier so viele Italiener leben?

Bellardita: Auch, aber nicht nur. Sie müssen wissen: Bei uns ist Geldwäsche erst seit 1993 strafbar, in Italien schon seit 1979. Die Möglichkeit, in Deutschland Kapital im großen Stil zu investieren, war in den 1990ern für die Mafia sehr attraktiv, das gilt vor allem für den Aufbau Ost. Da wurden sämtliche bürokratischen Hürden abgebaut, weil alles schnell gehen musste. Damals hat weniger die Cosa Nostra, sondern die kalabrische Ndrangheta unglaublich viel Geld investiert. Wir reden von zweistelligen Milliardenbeträgen.

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Warum wird in der Öffentlichkeit so wenig über die Mafia geredet?

Bellardita: Wir haben keine große kollektive Erinnerungskultur, die Mafia bringt meistens Italiener um. Es berührt uns auch nicht, wenn italienische Richter oder Politiker ermordet werden. Wir müssen endlich verstehen, dass ein ermordeter italienischer Richter oder Politiker auch ein europäischer Richter oder Politiker ist. Allerdings haben die Mafiamorde 2017 in Duisburg …

… damals wurden sechs Menschen vor einem italienischen Restaurant erschossen …

Bellardita: … zumindest das Bewusstsein dafür geschärft, dass man etwas gegen die Mafia tun muss. Das war sozusagen die Stunde Null. Da haben die Deutschen endlich verstanden, dass für die Mafia Deutschland nicht mehr wie in den 1980er Jahren nur als Rückzugsort, sondern auch als Operationsfeld dient. Trotzdem nehmen viele Politiker das Problem nicht ernst genug. Auch die Wissenschaft befasst sich wenig mit dem Phänomen. Es gibt kaum Studien und Statistiken. Wir wissen nicht einmal genau, wie viele Mafiosi es in Deutschland gibt.

Es gibt doch Schätzungen?

Bellardita: Ja, aber die sind wahrscheinlich zu niedrig. Laut BKA gibt es 880 Mafiosi. Nicola Gratteri …

… sorry, da muss ich passen …

Bellardita: … er ist als italienischer Staatsanwalt sozusagen der heutige Giovanni Falcone. Gratteri kommt allein bei den Ndrangheta-Mitgliedern auf andere Größenordnungen. Die Familien organisieren sich in sogenannten locale, also Banden. Eine hat mindestens 49 Mitglieder. Gratteri glaubt, dass es in Deutschland rund 60 solche locale gibt.

Das sind ja fast 3000 Leute.

Bellardita: Mindestens, denn die locale kann ja auch größer sein. Bei so vielen Mitgliedern glaubt Gratteri, dass es in Deutschland auch eine Crimine di Germania gibt. Das wäre dann eine Außenstelle der Ndrangheta auf Konzernebene.

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Waltraud Kirsch-Mayer
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Womit verdient die Mafia in Deutschland ihr Geld?

Bellardita: Bei der Ndrangheta geht es vor allem um Rauschgifthandel, sie bringt Kokain mit einem Reinheitsanteil von 100 Prozent auf den Markt. Da geht es nicht um einige Kilo. Seit der Großrazzia Eureka wissen wir, dass die deutsche Gruppierung innerhalb von zweieinhalb Jahren eine Tonne Kokain bewegt hat. Das Rauschgift dürfte einen Wert von 70 Millionen Euro haben. Dieses Geld wird dann im normalen Wirtschaftskreislauf gewaschen.

Wie funktioniert das?

Bellardita: Das fängt bei den einfachsten Geschäften an. Nehmen sie mal eine Pizzeria. Das Bargeld der echten Gäste landet in der Kasse. Der Besitzer legt dann noch sein schmutziges Mafia-Geld dazu, mit dem angeblich die fiktiven Gäste bezahlt haben. Der Inhaber zahlt Steuern und kauft mit dem Gewinn zum Beispiel eine Immobilie.

In Deutschland konnte man diese bis vor Kurzem bar bezahlen.

Bellardita: Das stimmt. Die Mafia konnte da in den vergangenen Jahren Milliarden Euro waschen. Seit April ist das nicht mehr möglich. Aber es gibt natürlich Schlupflöcher. Ich kann mehrere Porsche im Wert von 120 000 Euro weiter bar bezahlen. Dann kann ich die Autos in eine Verwaltungs GmbH einbringen …

… und verkaufe die dann wieder. Und mit dem Geld erwerbe ich eine Immobilie, oder?

Bellardita: So ungefähr. Aber wir sollten jetzt nicht die verschiedenen Geldwäsche-Modelle diskutieren. Damit würden wir einige vielleicht erst auf Gedanken bringen. Geldwäsche ist nicht nur beim Warenumsatz möglich. Das geht auch bei Dienstleistungen wie der Unternehmensberatung. Da schreibt man halt für ein Gespräch 3000 Euro auf. Deutschland müsste im administrativen Bereich viel mehr machen. Wir bräuchten wie bei der Anti-Terror-Bekämpfung Listen, auf denen Menschen stehen, von denen wir wissen, dass sie zur Mafia gehören. Die Listen müssten dann bei den Registergerichten und Grundbuchämtern ausliegen, dann könnten diese Mafiosi ihr Geld nicht mehr waschen. Italien macht das schon.

Alessandro Bellardita (hier bei einem Vortrag) © privat

Dort können die Behörden zum Eisdielenbesitzer gehen und ihn fragen: Woher kommt denn dein Kapital? In Deutschland geht das nicht.

Bellardita: In Italien setzt die Kontrolle sogar schon einen Schritt früher an. Wenn ich als Start-up-Unternehmer drei Eisdielen betreiben will, reicht es nicht, dass ich einen Businessplan und das notwendige Kapital habe. Ich muss mich einem Screening unterziehen, sämtliche Stellen dürfen dann prüfen, ob ich etwas mit der Mafia zu tun habe. Wenn das der Fall ist, kann nicht als Unternehmer tätig werden. Das ist einer der Gründe, warum die Mafia ihr Geschäftsmodell in Länder wie Deutschland, die Niederlande, Belgien und Spanien verlegt, weil es dort dieses Screening nicht gibt.

Und sich niemand dafür interessiert, woher das Geld stammt.

Bellardita: Genau. Dieser Punkt ist besonders wichtig. Wenn wir über Mafiabekämpfung sprechen, denken wir immer an repressive Maßnahmen. Wenn die Polizei Razzien durchführt, ist das Kind ja schon in den Brunnen gefallen. Das Screening ist ein viel wirksameres Mittel, denn es verhindert, dass mafiöse Strukturen überhaupt entstehen können. Wir dürfen nicht vergessen: Ohne eine unternehmerische Basis kann der Mafioso sein schmutziges Geld nicht waschen. Er hat ja im Vergleich zur Konkurrenz einen krassen Vorteil, nämlich viel Bargeld. Er muss nicht zur Bank gehen. Der Mafioso tritt mit unfairen Mitteln als Wettbewerber auf und setzt die Gesetze des Marktes außer Kraft. Ein Paradebeispiel dafür ist die Baubranche. Der Mafioso unterbietet die Konkurrenz und bekommt den Auftrag. Die Immobilien werden dann immer teurer.

Sie haben als Richter und Staatsanwalt auch die Organisierte Kriminalität bekämpft. Kann ich Sie als Mafiajäger bezeichnen?

Bellardita: Nein, um Gottes willen. Die Bezeichnung „Mafiajäger“ kann es in der Form in Deutschland nicht geben. Wir bräuchten dazu ja eine zentrale Staatsanwaltschaft, die das schwerpunktmäßig machen würde. Das war ja die Grundidee von Giovanni Falcone. Er hat gesagt: Die Mafia ist ein einheitliches Phänomen. Da reicht es nicht, wenn ich drei Drahtzieher wie bei einer gewöhnlichen Bande einsperre. Die Mafia ist sozial in der Gesellschaft verwurzelt. Die Verflechtungen sind so intensiv bis ins Ausland, dass ich nie eine Zelle isoliert betrachten kann. Das ist wie beim Terrorismus: Da sage ich ja auch nicht: Jetzt haben wir zwei Terroristen hochgenommen und damit den IS zerstört.

Was schlagen Sie denn vor?

Bellardita: Beim Terrorismus haben wir ja die Möglichkeit, dass der Generalbundesanwalt einen Fall übernimmt, wenn er das für richtig hält. Man könnte natürlich auch den Bereich Mafia beim Generalbundesanwalt ansiedeln und dort einen Pool von Staatsanwälten schaffen.

Die wären dann die Mafiajäger.

Bellardita: Richtig. Wir könnten dann zentral die Informationen und das Wissen verwalten. Nur daraus kann eine Ermittlung oder Vorermittlung entstehen. Eine juristische Handhabe gibt es im Strafgesetzbuch mit dem Paragrafen 129, der die „Bildung einer kriminellen Vereinigung“ ahndet. Das Gesetz müsste aber verschärft werden.

Warum?

Bellardita: Die Höchststrafe liegt bei fünf Jahren. Wenn der Staatsanwalt dagegen einen Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz auf dem Tisch hat, kann das Strafmaß auf 15 Jahre steigen, wenn es um grenzüberschreitenden Drogenhandel mit Waffenbesitz geht. Warum soll er dann nachforschen, ob der Drogenhändler der Mafia angehört und ob Geldwäsche im Spiel ist? In Italien ist das anders geregelt. Dort gibt es seit 1982 eine Vorschrift speziell für die Bildung und die Unterstützung einer mafiösen Vereinigung. Das Strafmaß geht bis 20 Jahre. So eine Regelung brächten wir auch.

Hat Italien das Mafia-Problem inzwischen im Griff?

Bellardita: Ich finde schon. Ich nenne Ihnen nur mal eine Zahl. In Italien sitzen gegenwärtig 7800 Leute wegen der Bildung und der Unterstützung einer mafiösen Vereinigung im Knast. In Deutschland waren es 2018 gerade mal neun Verurteilte auf Basis des Paragrafen 129. Ein weiteres Indiz erscheint mir noch wichtiger. Warum geht die Mafia überhaupt nach Deutschland?

Wo es kalt ist und das Essen nicht schmeckt.

Bellardita: Auch die Sprache und die Kultur sind anders. Dafür kann es nur einen Grund geben: Italien hat nach der Ermordung Falcones 1992 der Mafia nicht nur den Krieg erklärt, sondern bekämpft sie auch mit großem Erfolg.

Redaktion Reporter für Politik und Wirtschaft

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