Zum Kommentar von Martin Schulte „Ritt auf der Frustwelle“ am 7. Juni
Herr Schulte schreibt, „wir reiten die Frustwelle“. Wenn er davon ausgeht, dass es eine Frustwelle in Viernheim gibt, stellt sich doch die Frage, warum diese bislang im „Südhessen Morgen“ nicht vorkommt. Weder in Leserbriefen noch in redaktioneller Berichterstattung. Stattdessen halten Herr Schulte und der „Südhessen Morgen“ ein Scheinbild von Viernheim aufrecht, von einer Stadt in der alles super läuft.
Fallen sie hier vielleicht der massiven Positivberichterstattung der Pressestelle der Stadtverwaltung zum Opfer? Immerhin fünf Mitarbeiterinnen sind hier tätig, teilweise noch unterstützt von noch mehr Personen aus der Stadtverwaltung. Da dürften mehr sein als in Ihrer Viernheim-Redaktion. Wir als Bürgerschaft zahlen eine der höchsten Grundsteuern in der Region, und die Stadt leistet sich fünf und mehr Menschen, die die Aufgabe haben, ein Positivbild von Viernheim zu verbreiten. Und der „Südhessen Morgen“, der immer den Wert seiner journalistischen Qualität betont, hat nichts kritisch zu hinterfragen? Oder wie in dem aktuellen Beitrag noch diejenigen zu kritisieren, die hier die Finger in die Wunde legen?
Herr Schulte schreibt dann über den Workshop mit Bürgerinnen und Bürgern vom Hörensagen. Teilgenommen hat er nicht – trotz Einladung und Aufruf, es zu tun. Vermutlich hätten viele der teilnehmenden Bürgerinnen und Bürger gerne gewollt, dass er von dem Frust hört und darüber schreibt. Dazu lässt sich Herr Schulte aber nicht herab.
In seinem Kommentar arbeitet er sich daran ab, dass jeder, der sich hier kritisch äußert, ja nur seine Eigeninteressen verfolgt und eben nicht fürs Gemeinwohl einsetzt. Das geht bis hin zur Kritik an der Person von Wolfram Theymann, der ebenfalls sein Eigeninteresse verfolgt: erst ins Stadtparlament und dann ins Bürgermeisteramt. Jetzt hätte auch Herr Schulte mitbekommen können, dass es in Viernheim eher das Problem gibt, Leute zu finden, die überhaupt ins Stadtparlament wollen. Manche Parteien laden per Presse dazu ein, für sie ins Parlament zu gehen. So attraktiv scheint das offenbar nicht zu sein. Das jetzt umzudrehen und als Einzelinteresse abzutun, ist unlauter. In einem Pressegespräch, zu dem eine neue Wählergemeinschaft einlädt, wäre genau der Platz gewesen, persönliche Motivation für das Engagement zu hinterfragen. Das hat Herr Schulte jedoch nicht getan.
Interessant ist auch der Vorwurf fehlender Sachkenntnis. Auch hierzu kein Hinterfragen der Position. Es reicht Herrn Schulte aus, ein Statement aus dem Zusammenhang zu reißen und so zu interpretieren, dass es in sein Weltbild passt. Die Fakten, die wir dazu benannt haben, bleiben unbenannt. Ja, der Haushalt ist kein schönes Buch! Weil er unübersichtlich ist und auch Stadtverordnete, die ihre Fragen mit der Kämmerei klären können, lässt der Haushaltsplan oft ratlos zurück. Wir haben die Haushalte verschiedener Kommunen der Region verglichen und festgestellt, dass Viernheim mehr Geld pro Einwohner ausgibt als zum Beispiel Heppenheim und andere. Wieso kommen andere mit weniger Geld aus? Leider hat Herr Schulte das überhört.
Wir haben in Viernheim Probleme. Die kann man nun negieren und so tun, als sei alles in Ordnung. Man kann als Stadtverwaltung Schreiben der Bürger, Unterschriftensammlungen, Bitten um Gespräche mit Verantwortlichen etc. ignorieren und so tun, als höre man sie nicht. Das tut die Stadt bei vielen Themen und nicht nur beim Gehwegparken. Hinzu kommen Probleme, die uns mittelfristig auf die Füße fallen werden wie der Klimawandel, die Finanzen und anderes. Man kann gleichzeitig so tun, als sei alles in Ordnung und mit fünf und mehr Mitarbeitern der Pressestelle ein Positivbild verbreiten. Das scheint aber nicht zu wirken, oder woher kommt sonst die „Frustwelle“, die Herr Schulte erkannt haben will?
Ja, wir bekommen zu wenig Geld vom Land und vom Bund für die Aufgaben, die sie uns übertragen. Andere Städte kommen aber besser damit klar als Viernheim. Es sind also nicht nur die anderen Schuld! Es fehlen über 200 Kitaplätze. Das kann man als „Partikularinteressen“ abtun. Aber sie haben auch Auswirkungen auf uns alle. Viele Viernheimer wissen nicht, wo sie in Zukunft ihr Auto parken sollen. Dazu macht die Stadt überdeutlich, dass das nicht ihr Problem ist – trotz früher eigener Entscheidungen, enge Wohngebiete weiter zu verdichten oder sich bei der Angabe von Parkplätzen beim Bauen übers Ohr hauen zu lassen. Die Alternativen zum Auto sind unzureichend und bisher auch kein Thema in der Diskussion. Beim Klimaschutz sind wir auch nicht gut – gemäß der Stadtwerke haben in 2023 ganze 13 Familien Ihre Heizung von Gas auf Wärmepumpe umgestellt trotz langjähriger Kampagnen und Beratungsangeboten des Brundtlandbüros mit seinen vier (!) Mitarbeitern. Die Reihe lässt sich fortsetzen. Alles Fakten, die wir Herrn Schulte gerne genannt hätten, hätte er nicht nur Interesse, ein paar Gedanken aufzuschnappen, die sein populistisches Bild bestätigen. Dann hätte die Diskussion mit ihm sogar richtig interessant werden können. Aber für den Schwenk dürfte die Pfadabhängigkeit in der für Viernheim zuständigen Redaktion zu groß sein.
Und letztendlich ist das auch Grundlage für die Probleme in der Demokratie. Die Dinge laufen nicht gut! Es werden dann mit viel Mitarbeiterkraft die Dinge schön geschrieben, Kritik und Vorschläge ignoriert. Wenn die Bürger allerdings sehen, dass niemand sie anhören will, dass ein Engagement in Parteien oder gar in öffentlichen Ämtern nichts verändert, ziehen sie sich eben zurück. Das ist der Moment, wo Herr Schulte den Leuten dann vorwirft, sich nichts fürs Gemeinwohl zu engagieren. Die Unzufriedenheit bleibt natürlich. Manche gehen dann nicht mehr wählen, andere wenden sich Parteien zu, die nicht mehr auf demokratischem Fundament basieren. Es wäre besser, man würde die Energie dafür verwenden, die Dinge in Ordnung zu bringen – und zwar die Energie, die man aufwendet, so zu tun als wäre alles super UND die Energie derer, die sich dagegen wehren.
Was Herr Schulte da in seinem Kommentar im Südhessen Morgen abliefert, ist nichts weiter als ein Stück aus dem Repertoire derer, die sich eingerichtet haben in einer politischen Landschaft, in der möglichst wenig hinterfragt und möglichst viel schöngefärbt wird. Er spricht von „Frustwelle“, von „Populismus“, und versucht dabei, alle, die sich nicht mit leeren Phrasen abspeisen lassen, in die Schmuddelecke zu stellen. Das ist die klassische Strategie der Selbstzufriedenen: Wer Unrecht anspricht, wird nicht etwa gehört, sondern verächtlich gemacht. Wer sich Gehör verschafft, hat keine Ahnung. Wer unbequem ist, will nur „Bashing“. Wer Fragen stellt, negiert „Realitäten“. Willkommen im Club der Selbstgerechten.
Er lobt die Demokratie und verkennt, dass sie eben auch Debatte, Dissens und das produktive Aufbegehren braucht. Ohne Frust keine Verbesserung. Wer heute noch so kommentiert, ist kein Wächter der Demokratie, sondern ihr Dämpfer. Mehr Debatte, mehr Mut, mehr Beteiligung – das braucht das Land. Alles andere ist Verwaltungsprosa im Biedermeiersessel.
Das Gute an der Berichterstattung und dem Kommentar ist, dass wir als Bürgernetzwerk offenbar für Unruhe bei den Verantwortlichen sorgen. Und es hat seine Wirkung in der Bürgerschaft. Wir werden sehen, wie das ausgeht.
Wir als neues Bürgernetzwerk wollen nicht den Kampf zwischen Parteien, Stadt und Bürgerschaft. Das ist reine Energieverschwendung. Wir suchen vielmehr nach einem Weg, die Dinge in Ordnung zu bringen, und zwar mit allen, die beteiligt sind: die Stadtverwaltung, die Politik, die Bürgerschaft und idealerweise auch mit der vierten Gewalt im Staate, der Presse. Ein guter Anfang wäre, die richtigen Fragen zu stellen.
Leserbriefe
- Leserbriefe sind in keinem Fall Meinungsäußerungen der Redaktion.
- Ein Recht auf Veröffentlichung gibt es nicht. Die Redaktion behält sich sinnwahrende Kürzungen vor.
- Anonyme Zuschriften veröffentlichen wir ebenso nicht wie solche mit beleidigenden und ehrverletzenden Äußerungen.
- Teilen Sie uns immer Ihre komplette Anschrift mit, veröffentlicht wird nur Ihr Name mit Wohnort.
- Wir behalten uns vor, Leserbriefe auch in unseren digitalen Angeboten zu veröffentlichen.
- per E-Mail-Kontaktformular
- postalisch: Leserforum/Leserbriefe, Mannheimer Morgen, Redaktion Postfach 10 21 64, 68021 Mannheim
Leserbriefe erreichen uns: