Leichtathletik

Wie es Zehnkämpfer Leo Neugebauer plötzlich zum WM-Medallienanwärter geschafft hat

Leo Neugebauer gilt als neues Gesicht der deutschen Leichtathletik. Im Juni löschte er überraschend den deutschen Zehnkampf-Uraltrekord aus. Nun will er die 9000-Punkte-Marke übertreffen

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Reinhard Köchl
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Der deutsche Zehnkampf-Rekordhalter Leo Neugebauer sieht unter anderem im Kugelstoßen noch Luft nach oben. © Sven Hoppe/dpa

Erding. An dieses Bild muss man sich erst noch gewöhnen: Während in der Vergangenheit immer wieder die gleichen Gesichter die Medientage des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) bestimmten, so ist es diesmal in Erding am Rande der blauen Bahn des Sepp-Brenninger-Stadions ein völlig neues.

Ein Fernseh-Reporter plaudert mit der Olympiazweiten Kristin Pudenz, Gina Lückenkemper hat sich schon ins Hotel zurückgezogen und die jungen, weitgehend unbekannten Sportlerinnen und Sportler schlendern nahezu unbehelligt vorbei. Doch das Gros der Journalisten drängt sich nur um einen Tisch. Leo Neugebauer hat dort Platz genommen, ein Hüne von zwei Metern Körpergröße, fast 110 Kilogramm Gewicht, charmant, eloquent und die geballte Aufmerksamkeit sichtlich genießend.

Neugebauer, gerade erst 23 geworden, sorgte am 8. Juni bei den NCAA Division Championships in Austin/Texas - den amerikanischen College-Meisterschaften - für den leichtathletischen Paukenschlag des Jahres. Mit 8836 Punkten löschte er den deutschen Zehnkampf-Uraltrekord von Jürgen Hingsen aus, schob sich auf Platz neun der ewigen Weltbestenliste und hinterließ nicht nur in den Gesichtern der Experten, sondern auch in denen der Verantwortlichen des DLV viele Fragezeichen.

US-College als Sprungbrett

Leo wer? Klar kannte man den Jungen aus dem württembergischen Leinfelden-Echterdingen, immerhin hatte er schon 2017 mit der Bronzemedaille bei den U-18-Weltmeisterschaften in Nairobi (Kenia) angedeutet, was ihn ihm steckt und im März mit 8478 Punkten die Norm für die WM und die Olympischen Spiele 2024 in Paris abgehakt.

Ein interessanter Zehnkämpfer klar, aber auch einer, der sein komplettes Rüstzeug in den USA verliehen bekam. Dort studiert Neugebauer nämlich seit 2019 und hat sich vom klassischen Talent deutscher Prägung mit Mindesthaltbarkeitsdatum zu einem echten Weltklasseathleten gemausert, der bei der am Samstag beginnenden WM in Budapest zum Kreis der Medaillenanwärter zählt.

Rückblende: Noch vor einigen Jahren hatten die deutschen Bundestrainer ihren Nachwuchs noch eindringlich davor gewarnt, nach dem Schulabschluss dem Werben amerikanischer College-Scouts nachzugeben und mit dem Entzug des Kaderstatus oder anderer Unterstützungen gedroht. Aber die Erfolge von Konstanze Klosterhalfen und Gina Lückenkemper, die in den USA trainieren, und letztlich auch Leo Neugebauer ließen die Kritiker verstummen. Heute gilt es längst als Erfolgsmodell, in die USA zu gehen.

MTG-Trio für Budapest

  • Bei der Leichtathletik-WM in Budapest geht auch ein Trio der MTG Mannheim an den Start.
  • Kugelstoßerin Yemisi Ogunleye muss sich noch etwas gedulden. Die Qualifikation ist erst für Samstag, 26. August, 10.25 Uhr, angesetzt. Noch am gleichen Abend findet das Finale statt (20.15 Uhr).
  • Sprinterin Lisa Nippgen könnte in der Staffel über 4 x 100 Meter zum Einsatz kommen (Qualifikation: 25. August, 20 Uhr/Finale: 26. August, 21.50 Uhr).
  • Gleiches gilt für MTG-Sprinter Robin Ganter (Qualifikation: 25. August, 19.30 Uhr/Finale: 26. August, 21.40 Uhr). cr

 

„Ich hatte Riesenglück“, lächelt Neugebauer, „den richtigen Trainer und die passende Trainingsgruppe zu finden. Der Schritt nach Amerika war für mich die beste Entscheidung meines Lebens, und ich würde sie auf jeden Fall wieder treffen. Ich bin beim täglichen Training von richtigen Klasseathleten umgeben, da komme ich bei Läufen fast immer als Letzter ins Ziel.“

Stipendium bietet Neugebauer Unterstützung

Sein Sportstipendium in den USA lieferte Neugebauer professionelle Rahmenbedingungen: Zwei Mal Training pro Tag, Physiotherapie und kurze Wege. Die Aufmerksamkeit und Wertschätzung für den Sport seien in Amerika auf einem ganz anderen Niveau, schwärmt der Senkrechtstarter. Mehrere Mitarbeiter an der Uni planen seinen Tag, bringen Vorlesungen und Training unter einen Hut oder stellen seinen Wettkampfkalender zusammen. Neugebauer hat den Kopf frei, reift nicht nur körperlich, sondern auch mental zum Spitzenathleten.

Ich wusste, dass ich gut bin, aber dass ich so gut bin? Da habe ich mich selbst überrascht. Krass!
Leo Neugebauer

Während der frischgebackene deutsche Zehnkampf-Rekordhalter dies erzählt, beobachtet ihn ein paar Meter entfernt sein amerikanischer Coach Jim Garnham, eine athletische Erscheinung in den Vierzigern. Die Uni hat ihn freigestellt, um ihr „Juwel“ in die Heimat und nach Budapest zu begleiten, weshalb Garnham auch ein rotes DLV-Poloshirt tragen darf. „Wir verstehen uns super“, bekennt Neugebauer. „Er glaubt an mich.“ Bestes Beispiel: Vor dem Start in Austin hielt der Coach seinem Schützling ein Foto von Jürgen Hingsen unter die Nase.

„Er sagte: ,Hey Leo, schau mal: Das hier ist der beste deutsche Zehnkämpfer’. Und ich dachte mir: Warum zeigst Du mir das? Ich werde das nicht erreichen.“ Neugebauer hielt den deutschen Rekord damals für „untouchbar“, wie ein in seinem speziellen englisch-schwäbischen Kauderwelsch verrät. Aber das war er nicht. „Jetzt habe ich es halt echt geschafft. Ich wusste, dass ich gut bin, aber dass ich so gut bin? Da habe ich mich selbst überrascht. Krass!“

Neugebauers Ziele für die Leichtathletik WM

Dass er den gewaltigen Leistungssprung inzwischen mental verarbeitet hat, gehört zu Neugebauers Stärken. „Natürlich war das in Austin ein perfekter Wettkampf“, findet der Mann, dessen größte Stärke es ist, kaum Schwächen zu haben. „Aber im Kugelstoßen und über 110 Meter Hürden war ich noch ein wenig zu vorsichtig. Da gibt noch Luft nach oben. Wie in den anderen Disziplinen auch.“

Neugebauer sich sogar Großes zu: Als fünfter Zehnkämpfer der Geschichte möchte er die magische 9000-Punkte-Marke übertreffen. Schon in Budapest? „Das hängt von vielen Faktoren ab, vom Wetter natürlich. Aber, ja, ich möchte angreifen.“

Neugebauer hat in Erding für alle ein Lächeln parat, bleibt freundlich, mitteilsam und fühlt sich pudelwohl in der Rolle als neues Gesicht der deutschen Leichtathletik. Dessen Wert haben sie auch beim DLV erkannt. Man möge das Interview doch bitte im Schatten weiterführen, wacht Mediendirektor Peter Schmitt mit Argusaugen über das Wohl des Hingsen-Erben. „Denn Hitze bekommst du in den nächsten Tagen in Budapest noch mehr als genug.“

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