Abertausende Argentinier haben sich am Tag danach sichtlich gezeichnet zum Hamad International Airport von Doha geschleppt. Die meisten waren nach einer Nacht ohne Schlaf zu kaputt, um weiter zu singen, aber sie vereinte die glückliche Gewissheit, dass sich der teure Trip auf die Arabische Halbinsel gelohnt hatte. Viele gaben für ihre Verhältnisse ein Vermögen aus, manche auf dem Schwarzmarkt 4000 Dollar und mehr für ein Ticket, ungefähr dieselbe Summe für die Langstreckenflüge, um den historischen Moment ihres neuen Gottvaters im goldenen Tempel von Lusail mitzuerleben: die himmelblaue Krönungsmesse eines Lionel Messi, der Argentinien den dritten WM-Titel bescherte - und sein sportliches Lebenswerk abrundete.
Auch wenn in dem Wüstenstaat nicht die beste WM aller Zeiten stattgefunden hat, bekam Katar an seinem Nationalfeiertag das beste Finale geschenkt. Dass der sechsmalige Weltfußballer ein solches Spektakel wie gegen Frankreich (4:2 im Elfmeterschießen) orchestrierte, um erstmals die wichtigste Trophäe zu küssen, mutete fast surreal an. Die besungene Sehnsucht von der gemeinsamen Mission eines Diego Maradona und Lionel Messi hat sich tatsächlich erfüllt, und die fiktive Handreichung zwischen der verstorbenen Legende und der lebenden Ikone trug solch rituelle Züge, dass ein von einer schweren Wirtschaftskrise geplagtes Land sich durch den Fußball zumindest für ein paar Tage wieder stark fühlen kann.
Messi: Ich wollte es so sehr
„Gegen Ende meiner Karriere wurde mir fast alles gegeben. Es ist verrückt, dass es so passiert ist. Ich wollte es so sehr“, sagte Argentiniens Kapitän, der sich mehrfach am Kopf kratzte. „Ich wusste, dass Gott es mir geben würde, ich hatte das Gefühl, dass es so sein würde.“ Auch Nationaltrainer Lionel Scaloni fühlte sich Maradona ganz nah, als er mit tränenerstickter Stimme sagte: „Wenn er hier wäre, hätte er eine unbändige Freude empfunden und wäre der Erste auf dem Platz gewesen.“
Internationale Pressestimmen zum WM-Finale
„La Voz del Interior“ (Argentinien): „Der Fußball war gerecht mit Lionel Messi, die 10, die in niemands Schatten mehr steht. Mit 35 Jahren hat der Crack aus Rosario seine beste Weltmeisterschaft gespielt. Er war das Genie und die Schlüsselfigur und der Anführer einer Mannschaft, die Geschichte geschrieben hat.“
„Daily Mail“ (Großbritannien): „Argentinien im Traumland! Lionel Messi versetzt das Lusail Stadion in Verzückung, als er endlich seinen Traum realisiert.“
„Gazzetta dello Sport“ (Italien): „Argentinien ist Weltmeister, Messi wie Maradona.
„Marca“ (Spanien): „Messi, jetzt hast du deinen Pokal.“ dpa
In der Kabine in Doha hatten die Feierlichkeiten der himmelblauen Helden begonnen, die Abwehrchef Nicolás Otamendi festhielt. Sollte doch jeder sehen, dass Schampus und Bier nicht nur in einschlägigen Hotelbars im hinter den Kulissen oft gar nicht so prüden Emirat in Strömen fließen. Auch Messi gönnte sich ein Schlückchen, gab er doch den Anführer in den berauschenden Momenten: einen Elfmeter in der regulären Spielzeit, einen im Elfmeterschießen verwandelt, einen Treffer seines Kumpels Angel di Maria aus Rosario eingeleitet und dann noch sein 98. Länderspieltor (und zwölftes WM-Tor) erzielt. Dieses phänomenale Endspiel war die passende Schleife für fast 20 Jahre Profifußball auf nahezu unerreichtem Niveau.
Am Sonntag stieg der 35-Jährige gleich noch zum WM-Rekordspieler und besten WM-Spieler auf. Als „Man of the Match“ schwänzte er die Pressekonferenz, weil er lieber bei Freunden und Familie sein wollte. Der Antrieb, den der Ausnahmekönner aus der Anwesenheit von Ehefrau Antonela Rouccuzzo und seiner drei Kinder Thiago, Mateo und Ciro schöpfte, war nicht zu unterschätzen. Auf dem Rasen entstanden Familienbilder von Ewigkeitswert. Messi fühlt sich bei der Nationalelf seit dem Gewinn der Copa América 2021 inzwischen deutlich mehr wertgeschätzt als bei Paris St. Germain, wo er bis heute nicht solchen Einfluss hat. Deshalb soll nach 172 Länderspielen nicht Schuss sein. Er möchte nun noch „ein paar Spiele als Weltmeister“ erleben. Dass ihm Trainer Scaloni diese Entscheidung selbst überlässt, überraschte nicht. „Es liegt bei ihm. Alles, was er weitergibt, das ist surreal, so etwas habe ich noch nie gesehen, dass jemand so viel gibt“, schwärmte der 44-Jährige.
Bedauerlich, dass die Strahlkraft eines solchen Idols von FIFA-Präsident Gianni Infantino und dem Emir von Katar, Tamim bin Hamad Al Thani, bei der Siegerehrung missbraucht wurden. Erst hielten sich die zwei profilierungssüchtigen Herrscher zu lange am Goldpokal fest, um dann dem vielleicht größten Fußballer aller Zeiten ein „Bischt“, ein traditioneller Umhang, den Männer in den Golfstaaten zu besonderen Anlässen und Feierlichkeiten anziehen, umzuhängen. Der bei PSG aus einem katarischen Staatsfonds fürstlich bezahlte und als Tourismusbotschafter für Saudi-Arabien eingespannte Messi hat sich gegen die Vereinnahmung nicht gewehrt, aber es ist auch nicht anzunehmen, dass dieses Utensil einen Ehrenplatz bekommt.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Weltmeister Messi: Einer der Größten