Da sitzt er auf seinem Stuhl und spürt diese gewisse Leere. Timo Boll weiß nicht, wie er sich verhalten soll. Es ist ja jetzt eine neue Situation. Es gibt Augenblicke, auf die sich auch ein Profi nicht vorbereiten kann. Erschöpft ist der Odenwälder, ratlos und enttäuscht nach dem 1:3 gegen Anton Källberg und damit dem Aus der deutschen Mannschaft im olympischen Viertelfinale gegen Schweden. Aber irgendwie ist Boll auch froh, dass es vorbei ist mit dem Druck.
Alles Kämpfen hat nichts geholfen. Boll verliert. Auch Deutschland verliert, denn der Abschied eines Sportlers von Weltruhm ist gekommen. Es ist das internationale Ende einer Ausnahmekarriere. „Ein herausragender Spieler, der größte, den wir je hatten“, sagt Bundestrainer Jörg Roßkopf. „Es war herausragend, mit ihm zu arbeiten. Ein Großer, der die Sportbühne verlässt.“
Durch die Halle 4 in Paris-Süd schallen „Timo, Timo“-Rufe. Boll weint seine Tränen in ein weißes Handtuch. „Die Sprechchöre“, sagt der 43-Jährige, „da hat es mich brutal übermannt.“
Boll ist immer bescheiden und zurückhaltend geblieben
Das Publikum erhebt sich. Ovationen und minutenlanger Applaus. Boll verneigt sich - auch vor den Siegern aus Schweden, die artig klatschen, statt sich selbst zu feiern. Sie wissen, was dieser Mann für ihren Sport geleistet hat. Wie der Hallensprecher: „Dies waren seine siebten Spiele. Er gewann mit dem deutschen Team zweimal Olympia-Silber, zweimal Olympia-Bronze. Er stand dreimal an der Spitze der Weltrangliste.“
Ein Vierteljahrhundert Tischtennis-Vita im Schnelldurchgang. „Wir reden über Timo“ - dann pausiert der Sprecher. „Boll!“, übernimmt das Publikum. Auch Basketball-Legende Dirk Nowitzki ist darunter. Er weiß, wie sich solche Momente anfühlen.
Große Bewunderung auch in dem Tischtennisland schlechthin - in China
Sie haben sich mehrmals besucht. Boll ist bei den Mavericks in Dallas gewesen, auch bei der Aufnahme in die Hall of Fame der NBA im August 2023. Angefangen hat ihre Freundschaft bei Olympia in Peking. 2008. „Dass er mein letztes Spiel hier mitbekommen hat, ist toll“, sagt Boll. „Er sagt schon jahrelang, hör endlich auf, dass wir ein bisschen mehr zusammen unternehmen können. Ich habe mich dagegen gewehrt.“ Jetzt ist es so weit.
Ein Abgang ohne sportlichen Erfolg - aber mit Ehrenrunde. Boll, der trotz seiner Erfolge und der enormen Popularität in China, wo sie ihn studiert und kopiert haben, obwohl sie diesen Sport dominieren, nie abgehoben, sondern zurückhaltend und bescheiden geblieben ist, winkt. Weil die Menschen, die unentwegt seinen Namen skandieren, ihn nicht gehen lassen mögen.
Große Worte von den Teamkollegen Ovtcharov und Qiu
Eine Woche Urlaub mit der Familie gönnt sich Boll nun, ehe er für Borussia Düsseldorf bis zum Ende seines Vertrages 2025 noch in der Bundesliga spielt. Doch auf der internationalen Bühne sehen sie ihn nach sieben Olympischen Spielen, vier Olympia-Medaillen, zwei WM-Titeln und acht EM-Goldmedaillen nur noch als Gast.
„Eine brutale Situation für alle“, sagt Teamkollege Dimitrij Ovtcharov, „Timo, einer der größten Tischtennisspieler aller Zeiten. So eine unfassbar lange Karriere auf dem Niveau. Alle wussten, heute, morgen, einer der Tage wird es. Es war hoch emotional. Weil wir verloren haben und es Timos letztes Spiel war.“ Teamkollege Dang Qiu meint: „Von ihm muss man sich so viel abschauen, wie man nur kann. Er hat alles richtig gemacht.“
Das Miteinander im Sport wird Boll vermissen. „Als Patrick Franziska ein kleiner Junge war - vielleicht sieben oder acht Jahre alt - hat er bei mir zu Hause im Keller trainiert“, erzählt Boll. Mit seinen Tischtenniskollegen verliert er eine kleine Familie. Auch das macht ihn nun in Paris so emotional.
Nun viel Zeit für Tochter, Familie und Freunde nehmen
Doch der Mensch Timo Boll vergisst selbst in diesen emotionalen Momenten seine Mitstreiter nicht. Weil Bundestrainer Roßkopf den Mann aus dem Odenwald für die Sommerspiele in Paris nominiert hat, ist Patrick Franziska lediglich Ersatzmann. „Er hat das mit sehr viel Achtung und Stolz ertragen. Ich habe großen Respekt vor ihm“, betont Boll.
Sportlich hofft der 43-Jährige, dass Franziska, Ovtcharov und Qiu nun die Stützen sind, die es braucht, um auf Olympia-Niveau eine Medaille zu holen. Mit Blick auf die Niederlage gegen Schweden stellt Boll aber auch klar: „Wir müssen respektieren, dass die anderen auch hart arbeiten, brutal aufgeholt und uns auch überholt haben. Die Jungs müssen ohne mich noch mal eine Schippe drauflegen.“
Doch er wird nun nicht mehr im Wohnmobil zu Turnieren fahren, dieses dafür aber noch mehr für die Freizeit nutzen, sich Zeit für die Tochter, Familie und Freunde nehmen. Den Kopf freibekommen - und nicht Bundestrainer werden: „Rossi macht es sehr gut. Seinen Job will ich ihm auf keinen Fall streitig machen“, sagt Boll. Überhaupt: „Als ich meine Karriere angefangen habe, dachte ich, Ende 20 wird Schluss sein und dann mache ich eine Ausbildung zum Bankkaufmann. Keine Ahnung, ob es dafür jetzt zu spät ist.“
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