Pierrefitte-sur-Seine. „Plouff!“, kreischen die Kinder jedes Mal, wenn einer ihrer Freunde ins Becken springt. „Plouff“ ist Französisch für „platsch“. Lautes Rufen und Lachen hallt durch das neue Bad von Pierrefitte-sur-Seine im Norden von Paris. Es steht inmitten einer unwirtlichen Zone mit breiten Schnellstraßen und ehemaligen Fabrikgeländen. In der Ferne ragen Hochhäuser in die Luft. Der Bau selbst wirkt durch die Decke aus Holz und Stahl und die lange Fensterwand hingegen hell und freundlich.
„Alle kommen gerne. Der Beweis: Kein einziger vergisst seine Schwimmsachen“, berichtet die Grundschullehrerin Marine Genton. Dabei sahen drei der Viertklässler erstmals ein Bad von innen und hatten zunächst Angst, ins Becken zu gehen und dem Schwimmunterricht zu folgen.
Eigentlich steht dieser in französischen Grundschulen auf dem Lehrplan, doch mangels Badeanstalt konnte das in Pierrefitte-sur-Seine bislang nicht umgesetzt werden. Den Wandel brachte Olympia.
Mangelnde Infrastruktur in Paris gefährdete Schwimmfähigkeiten der Jugend
Die Organisatoren der Sommerspiele 2024 in Paris setzten darauf, dass mehrere Wettkampfstätten wie das große Stade de France und das neu gebaute Wassersportzentrum, aber auch das Olympische Dorf in den nördlichen Vororten im Département Seine-Saint-Denis liegen. Also dem ärmsten und jüngsten in Kontinentalfrankreich.
Es ist in vielerlei Hinsicht sozial benachteiligt: Hier gibt es vergleichsweise weniger Krankenhäuser, Freizeitangebote – und Bäder. Mehr als 60 Prozent der Zwölfjährigen in dem Département, zu dem auch Pierrefitte gehört, konnten 2023 nicht schwimmen – gegenüber 20 bis 30 Prozent Nichtschwimmern in ganz Frankreich.
„Als Paris 2017 die Ausrichtung der Spiele gewann, war klar, dass wir sie mit Aktionen vor Ort vorbereiten müssen, damit eine Dynamik entsteht“, betont Hervé Borie, Stadtrat und Vizepräsident des Gemeindeverbandes Plaine Commune: „Es war absurd, dass hier das Olympische Wassersportzentrum entstehen sollte, während mehr als die Hälfte der Kinder nicht schwimmen konnten.“
Seitdem wurden mehrere Bäder renoviert oder neu gebaut und einige Gemeinden stellten im Sommer mobile Schwimmbecken auf. Außerdem läuft in Seine-Saint-Denis und in Marseille unter anderem mit Geldern aus einem Olympia-Fonds das Schwimmlernprogramm „1,2,3 Nagez!“ – übersetzt: „1,2,3 Schwimmt los!“ Tausende nutzten seitdem das Gratisangebot.
Nachhaltige Wirkung der Spiele im Fokus
Das Erbe der Spiele für den Austragungsort und dessen Bewohnern ist für das Internationale Olympische Komitee (IOC) ein wichtiges Thema. Bei der Organisation wurde ein eigener Stab dafür eingerichtet und ein spezieller Fonds aufgelegt. Es ging auch darum, die Akzeptanz der Großveranstaltung in der Bevölkerung zu sichern.
Tania Bragia, als Head of Legacy beim IOC verantwortlich für den Nachlass der Spiele, verweist darauf, dass Sport mehr Platz in der französischen Gesellschaft bekommen habe. „Ein Beispiel hierfür ist die Regel, dass alle Schulklassen ab der Grundschule täglich mindestens eine halbe Stunde Sport treiben.“ Einem Senatsbericht zufolge setzen diese Vorschrift allerdings noch nicht alle Schulen um.
Darüber hinaus, so Bragia, seien in Zusammenarbeit mit Paris und mehreren Gemeinden im Département Seine-Saint-Denis mehr Sportgeräte im öffentlichen Raum aufgestellt worden. Außerdem seien neue Karriere-, Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten vor allem in den Vorstädten von Paris geschaffen worden. „Bei mehr als 80 Prozent der Zulieferer handelte es sich um kleine oder mittlere Unternehmen – meist aus der Region“, sagt Bragia.
Fast ein Jahr später zeigt sich, dass zum einen die französische Metropole selbst in mehrfacher Hinsicht profitiert hat – etwa in Form des Ausbaus seines Verkehrsnetzes, intensiver Renovierungsarbeiten oder auch neuer Bademöglichkeiten in der Seine, die für 1,4 Milliarden Euro einer umfassenden Reinigungsaktion unterzogen wurde. Zum anderen erfuhr auch der Norden von Paris spürbare Veränderungen.
Gentrifizierung erreicht die Pariser Banlieues: Preise steigen deutlich
Bragia spricht von einem „Beschleunigungseffekt für den Ausbau von Infrastrukturen“: Die automatisierte Metro-Linie 14 bis Saint-Denis wurde besonders schnell fertiggestellt, zwei neue Brücken verbinden mehrere Städte miteinander. Zudem wird das Olympische Dorf gerade noch umgebaut. „Wenn es ab September öffnet, entsteht eine neue Dynamik für das ganze Viertel“, verspricht die IOC-Funktionärin. Die ehemaligen Unterkünfte der Olympia-Teilnehmer werden zu Wohnungen für 6000 Menschen – ein Drittel davon Sozialwohnungen. Darüber hinaus entstehen Geschäfte, eine Kinderkrippe, Restaurants und Büros.
Hielten die nördlichen Banlieues von Paris seit Jahren noch der Gentrifizierung stand, so wird diese nun nach und nach in einigen Vierteln erkennbar – auch an den Wohnungspreisen. In Saint-Denis stiegen sie laut der Agentur „Meilleurs Agents“ trotz der Immobilienkrise um 21 Prozent in zehn Jahren. Sie liegen aktuell bei gut 4000 Euro pro Quadratmeter. Das ist allerdings immer noch nicht einmal die Hälfte vom Durchschnittspreis in Paris.
Vorurteile widerlegt: Harmonische Spiele in Paris
Das Département unterliegt seit Jahrzehnten einem großen Wandel, beschreibt Hervé Borie. „30 Jahre lang war Seine-Saint-Denis das größte Industriegebiet Europas, doch im Zuge der Deindustrialisierung ab den 1970er Jahren schlossen Fabriken und das Image verschlechterte sich zunehmend.“ Zwar haben inzwischen viele Unternehmen hier ihren Sitz – wie etwa Filialen der französischen Staatsbahn SNCF sowie viele Kino- und Fernsehproduktionsfirmen.
Doch die Vorurteile halten sich hartnäckig, beklagt der Lokalpolitiker. „Was hat man vor den Spielen nicht alles gehört: Ganze Horden aus Seine-Saint-Denis würden die Touristen angreifen und ausrauben! Und was ist passiert? Alles lief in bester Stimmung ab.“ Fanzonen wurden eingerichtet, die Menschen feierten und fieberten vor Leinwänden mit.
Für das Selbstbewusstsein der Bewohner war es wichtig, dass vor ihrer Haustür ein historisches Ereignis stattfand, sie Teil davon waren und nicht ausgeschlossen – wie sonst so oft. Und dass sie auch dauerhaft einen Nutzen davon ziehen.
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