München. Als Toni Kroos in der 65. Minute zur Ausführung eines weiteren Eckballs schritt, feierten ihn die deutschen Fans in der Kurve mit Sonderapplaus und „Kroos“-Sprechchören. Das einseitige Eröffnungsspiel der Heim-Europameisterschaft war zu diesem Zeitpunkt längst entschieden - die DFB-Elf erwischte beim beeindruckenden 5:1 (3:0)-Erfolg gegen Schottland einen perfekten Einstand ins Turnier.
Florian Wirtz (10.), Jamal Musiala (19.), Kai Havertz (45.+1, Foulelfmeter) und Niclas Füllkrug (69.) trafen für eine zeitweise wie entfesselt auftretende deutsche Auswahl. Schottland bestritt die zweite Halbzeit nach einer Roten Karte für Ryan Porteous (45., grobes Foulspiel) in Unterzahl.
Antonio Rüdigers Eigentor sorgte kurz vor dem Ende noch für das zu vernachlässigende 1:4 (87.) - auch weil Emre Can in der Nachspielzeit den alten Abstand wieder herstellte (90.+3).
"Großes Kompliment an die Mannschaft. So aufzutreten, vor allem die ersten 20 Minuten. Wir waren schon recht dominant. Wir haben viele Dinge gut umgesetzt.Es macht wenig Sinn, jetzt zu viel zu bremsen. Wir wissen, wir haben ein Spiel gewonnen, aber wir müssen mindestens noch eins gewinnen. Es ist ein erster Schritt, auf den müssen wir aufbauen", resümierte Bundestrainer Julian Nagelsmann den bisher höchsten deutschen EM-Sieg der Geschichte. Und Musiala, im Nachgang völlig zurecht zum "Playser of the match" gewählt, meinte: "Ein 5:1 im ersten Spiel ist echt gut. Wir haben die Stimmung gesehen im ganzen Land, und das brauchen wir. Einen besseren Start konnten wir nicht haben."
Nachdem Heidi Beckenbauer, Witwe der verstorbenen deutschen Fußball-Legende Franz Beckenbauer, den EM-Pokal zusammen mit den früheren DFB-Kapitänen Jürgen Klinsmann und Bernard Dietz ins Stadion getragen hatte, schickte sie zum Abschied noch einen kurzen Gruß Richtung Himmel.
Franz Beckenbauer wäre mit Sicherheit begeistert gewesen, hätte er noch erleben dürfen, wie sich die deutsche Mannschaft in der Folge präsentierte. Konzentriert, variabel, druckvoll - die überforderten Schotten hatten der Dominanz der DFB-Elf, die eine hohe Ballbesitzquote aufwies, überhaupt nichts entgegenzusetzen.
Traumstart in die EM: "Oh, wie ist das schön"
Und weil auch die Effizienz stimmte, gelang ein Traumstart ins Turnier, es waren 45 Minuten wie aus dem schwarz-rot-goldenen Bilderbuch. 1:0, 2:0, 3:0. Und das kam so. Erst spielte Toni Kroos eine seiner klugen Seitenverlagerungen auf die rechte Außenbahn zu Joshua Kimmich, der zentral am Sechzehner flach Florian Wirtz bediente: Der Leverkusener traf mit einem nicht komplett platzierten Schuss, den Schottlands Keeper Angus Gunn nur an den Innenpfosten lenken konnte (10.). Neun Minuten später leitete Kapitän Ilkay Gündogan den nächsten Treffer mit einem brillanten Pass nach links auf Havertz ein, der noch einmal auf Musiala ablegte. Körpertäuschung, Tor (19.).
„Oh, wie ist das schön“, sangen die deutschen Fans schon Mitte der ersten Halbzeit, die schottischen Feierbiester waren hingegen verstummt. Nach einem Foul von Ryan Christie an Musiala entschied Schiedsrichter Clement Turpin zunächst auf Elfmeter, korrigierte sich auf Hinweis des Videoassistenten zurecht und gab nur einen Freistoß an der Strafraumkante (25.).
Kurz vor Ende der ersten Halbzeit passierte das genau Gegenteil. Obwohl der Ryan Porteous Gündogan ganz offensichtlich mit einer Art Scherenschlag im Strafraum rüde von den Beinen geholt hatte, zeigte der französische Unparteiische sehr überraschend zunächst Richtung Eckball.
Nach Ansicht der Videobilder sah Turpin seine grobe Fehleinschätzung ein: Er gab Elfmeter und Rot für Porteous wegen groben Foulspiels. Havertz verwandelte sicher zum 3:0 (45.+1). „Wir haben Teamspiel und Individualität gezeigt. Das war eine großartige erste Halbzeit der deutschen Mannschaft“, schwärmte Weltmeister Per Mertesacker als ZDF-Experte in der Pause.
Mannheimer Pascal Groß feiert seine EM-Premiere
Angesichts dieses deutlichen Vorsprungs konnte Bundestrainer Julian Nagelsmann früh jedes Risiko eliminieren - und sorgte für ganz besondere Glücksgefühle bei einem gebürtigen Mannheimer: Für den bereits verwarnten Robert Andrich kam gleich zu Beginn des zweiten Abschnitts Pascal Groß zu seinem Europameisterschafts-Debüt. Der Kurpfälzer spielte am Vorabend seines 33. Geburtstags an der Seite von Kroos im defensiven Mittelfeld.
Mit einem Mann mehr auf dem Platz schien die Frage jetzt ohnehin nur noch, mit wie viel Vehemenz das deutsche Team auf weitere Treffer gehen würde. Schottland stand nun extrem tief, die DFB-Auswahl drückte weiter. Antonio Rüdiger prüfte aus 25 Metern Gunn (51.), der Dropkick von Wirtz am langen Pfosten ging über das Tor (58.), nach dem Schuss des fantastischen Musiala wurde Gündogan knapp vor dem möglichen 4:0 noch geblockt (59.).
Joker Füllkrug sticht mit dem ersten Ballkontakt
Das erledigte der kurz zuvor eingewechselte Füllkrug, der seinen ersten Ballkontakt aus 14 Metern humorlos zum vierten Treffer in den Winkel schweißte (69.). Einen weiteren Treffer bekam der Stürmer aus Dortmund kurz danach noch wegen Abseits aberkannt (76.).
Die Party-Stimmung in der Münchner Arena war so oder so auf dem Siedepunkt. Erst recht, als in der Schlussphase Musiala, der beste Mann auf dem Platz, gegen den bajuwarischen Volkshelden Thomas Müller ausgewechselt wurde. „Müller“-Sprechchöre, großer Jubel, Ovationen für Jungstar Musiala. Antonio Rüdigers unglückliches Eigentor per Kopf nach einer Standardsituation kurz vor Schluss war ein kleiner Schönheitsfehler (87.), den der eingewechselte Can mit seinem abgefälschten Schuss zum 5:1 wieder korrigierte (90.+3): "Ein geiles Gefühl, und eine verrückte Story, deshalb lieben wir den Fußball. Ich war vor zwei Tagen noch im Urlaub. Dann kam am Mittwoch der Anruf", sagte Can, der erst kurzfristig für Aleksandar Pavlovic (Mandelinfekt) nachnominiert worden war. Draußen im Stadion feierten die deutschen Fans völlig losgelöst zu den Klängen der inoffiziellen EM-Hymne "Major Tom"- die erhoffte emotionale Fußball-Party namens Heim-EM hat am Freitagabend mit einem furiosen Ausrufezeichen der DFB-Elf begonnen.
Was auch das Staatsoberhaupt so sah. „Ich finde, sie haben gut vorgelegt. Und wenn ich mich an das Sommermärchen 2006 erinnere, das hat auch in München gut begonnen", sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Das ist tatasächlich ein gutes Omen.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar "Mamma Mia, Deutschland": Was das Ausrufezeichen gegen Schottland zum EM-Start auslösen kann