Katar-Serie, Teil 2

Gastarbeiter in Katar: Zu Besuch auf der Schattenseite der WM

Wenn es um Kritik an der Fußball-WM in Katar ging, drehte es sich immer auch um sie. Die Gastarbeiter leben und arbeiten oft unter menschenunwürdigen Bedingungen. Ein Einblick in die Welt der Migranten in Katar

Von 
Susanne Fetter
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Bauarbeiter warten in Doha vor den Bussen auf die Rückfahrt in ihre Unterkünfte. © dpa/Susanne Fetter

Nachts ist es auf den Straßen von Doha taghell. Große Scheinwerfer strahlen die Baustellen an, auf denen wenige Wochen vor Beginn der Fußball-Weltmeisterschaft rund um die Uhr gearbeitet wird.

Hotels werden noch fertiggestellt, Gehwege gepflastert, Fanzonen gebaut. Und damit alles schön grün ist, werden Bäume gepflanzt und Rasen wird verlegt. An der Corniche, der Wasserpromenade gegenüber der glitzernden Skyline, soll es besonders hübsch werden.

Nachts gegen 1.30 Uhr gähnt einer der Arbeiter tief und setzt sich kurz. Die Augen sind klein, der Schweiß steht ihm auf der Stirn. Das Wetter ist drückend in Katar. Anfang Oktober sind es selbst nachts noch 35 Grad. Bis zur WM soll es sich abkühlen. Gerade ist die Luftfeuchtigkeit so hoch, dass sie vor einem Restaurant in Doha Eimer aufgestellt haben, um das vom Dach tropfende Kondenswasser zu sammeln.

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Die Männer auf der Baustelle sind dick vermummt. Mittags, wenn es in diesen Tagen noch 41 Grad heiß ist, schützen sie sich dadurch vor der Sonne, nachts vor dem Staub.

Der Mann auf der Baustelle gähnt noch einmal. Feierabend? „Nein“, sagt er und schüttelt den Kopf. Bis 9 oder 10 Uhr morgens müsse er noch. Wann er angefangen habe? Der Mann aus Südostasien winkt ab. Lange Tage? Er nickt und geht wieder an die Arbeit. Einer seiner Kollegen, offenbar sein Vorgesetzter, schaut schon misstrauisch.

Seit der Vergabe des Turniers 2010 prägt die Kritik an den Arbeitsbedingungen der Migranten in Katar die Diskussion. Die, die dem Fußball hier die große Bühne bereiten, verschwinden nach ihrer Schicht in Richtung Trostlosigkeit.

Bei der Fahrt durch die Straßen des Industriegebietes kann man erahnen, unter welchen Bedingungen die Menschen hier leben. Staubig ist es. Die Baracken der Arbeiter liegen zwischen Zementfabriken, Werkstätten, Lagerhäusern und Schrottplätzen. Die Straßen bestehen aus Schotter. Zwischen 1,5 und 2 Millionen Menschen leben hier, Sie kommen aus Bangladesch, Nepal, Pakistan, Indien, Sri Lanka – und immer häufiger aus afrikanischen Ländern, weil Arbeiter von dort noch günstiger sind.

Manche haben ihre Kleidung an die Balustraden gehängt, um sie dort zu trocknen. Der Staub setzt sich schnell darauf ab. Fenster gibt es kaum. Die Türen sind verrammelt, um dem Dreck keine Möglichkeit zu geben, hineinzugelangen. Sonnenlicht bleibt so ebenfalls fern.

„Ein Leben in der Schuhschachtel“

Florian Bauer, sportpolitischer Journalist, hat die Unterkünfte schon von innen gesehen. „Es ist menschenunwürdig, wie diese Arbeiter dort zusammengepfercht leben“, sagt er. „Auf zwölf, 14 Quadratmetern wohnen sechs, acht, zehn oder zwölf Leute auf Stockbetten. Es gibt wenig Raum zur persönlichen Entfaltung. Unter dem Bett lagern Kartoffeln, Ingwer, Knoblauch. Davor steht ein sehr kleiner Schrank. Am Ende des Bettes liegen oft Kleidung und ein paar Habseligkeiten“, sagt Bauer: „Ein Leben in der Schuhschachtel.“

Am Rande des Industriegebietes befindet sich ein riesiger Parkplatz. Tausende Busse fahren von hier die Arbeiter zu den Baustellen und holen sie wieder ab. Im katarischen Winter starten die ersten Busse um 5 Uhr morgens, gegen 6 Uhr bringen sie die Nachtschicht zurück. Acht bis zwölf, manchmal auch 13 Stunden sind die Arbeiter im Einsatz.

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Lauscht man hingegen den Ausführungen von Mahmoud Qutub, im WM-Organisationskomitee zuständig für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen, könnte man meinen, Katar und der Fußball-Weltverband FIFA seien Anwärter auf einen Menschenrechtspreis.

Während etwa die britische Zeitung „Guardian“ im Februar 2021 von 6500 gestorbenen Arbeitern in Katar seit der Vergabe der WM im Jahr 2010 sprach, nennt Qutub drei Tote auf den WM-Baustellen in diesem Zeitraum. Dazu kämen 37 Todesfälle, die nicht arbeitsbezogen gewesen seien.

Max Tuñón hat wieder andere Zahlen parat. Er arbeitet für die internationale Arbeiterorganisation ILO, eine Sondereinrichtung der Vereinten Nationen, die von Katar finanziert wird. 50 arbeitsbezogene Todesfälle, sagt er, habe es 2020 gegeben. 45 Prozent seien durch Stürze gestorben, 16 Prozent von Objekten erschlagen und 26 Prozent bei einem Verkehrsunfall getötet worden. „Wir verstecken nichts und legen alles offen“, sagt Tuñón.

Schleppende Modernisierung

Woher rühren die riesigen Differenzen? Vor allem daher, dass es kaum belegbare Zahlen gibt, aber viele ungeklärte Fragen: Was ist ein Arbeitsunfall und was nicht? Zählt man nur die Toten auf den WM-Baustellen oder alle gestorbenen Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter im Land? Schließlich sind viele wegen des Turniers in Katar, auch wenn nicht alle an Stadien mitbauen. Und was ist mit Männern, die erschöpft nach einer langen Schicht in der Pause oder im Schlaf sterben?

Der Menschenrechtler Nick McGeehan von der nichtstaatlichen Organisation Fair Square mahnt an, dass „69 Prozent der Todesfälle nicht aufgeklärt sind“. Oft wird Herzversagen als Todesursache genannt. Woher es rührt, ist unbekannt. Auch weil die Arbeiter kaum Zugang zum Gesundheitssystem haben – obwohl die Arbeitgeber dies eigentlich gewähren müssten, wie McGeehan sagt. Es ist eine der Änderungen, die es in Katar geben sollte, seitdem sich das Land 2020 zumindest offiziell vom Kafala-System verabschiedet hat. Doch die Modernisierung geht schleppend voran.

Das Kafala-System basiert auf dem Prinzip der Bürgschaft. 2013 hatte der deutsche Fußball-Kaiser Franz Beckenbauer in Katar „keinen einzigen Sklaven g’sehn“. Er hat nicht genau hingeschaut.

Denn dieses System ist moderne Sklaverei. Der Arbeitgeber bestimmt die Arbeitsdauer. Er kann Pässe einziehen und Lohn vorenthalten. Bei weiblichen Hausangestellten führt dieses Abhängigkeitsverhältnis oft zu sexuellem Missbrauch. Für sie, sagt McGeehan, habe sich ohnehin nichts geändert. Ob der Fokus der WM geholfen habe, überhaupt etwas zu verbessern? McGeehan braucht nur ein Wort: „No!“

Katar fühlt sich missverstanden

ILO-Chef Tuñón sieht das etwas anders. Auch wenn er gesteht: „Wir sprechen nicht von der Abschaffung des Kafala-Systems. Aber wir haben die größten Probleme abgebaut.“ So sei etwa ein Arbeitnehmerfonds eingerichtet worden, der greife, wenn Arbeitgeber nicht zahlen. 160 Millionen Euro seien laut ILO aus diesem bisher an 37 000 Arbeiter gegangen. Dazu gebe es ein Beschwerdesystem. Doch wie Tuñón sagt, wird denjenigen, die sich dorthin wenden, geraten, lieber erst den Arbeitgeber zu wechseln, da es oft Monate dauere, die Situation zu lösen. Durch die Veränderung könnten Arbeitnehmer nun immerhin „ohne Erlaubnis des Arbeitgebers das Land verlassen oder den Job wechseln“, so Tuñón. Ob der Reformprozess nach der WM weitergeht? Er meint: ja.

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Auch wenn es gravierende Probleme bei der Umsetzung gebe, „was die rechtlichen Rahmenbedingungen angeht, hat Katar einige Verbesserungen vorgenommen, die es so in der Region am Golf nicht gibt“, sagt Islamwissenschaftler Sebastian Sons.

Im Emirat fühlt man sich daher oft missverstanden. Man mache doch schon so viel. Andernorts sei es doch noch schlimmer. In anderen Regionen des Golfs gibt es nicht einmal einen Mindestlohn. In Katar schon.

Er liegt, je nach Umrechnungskurs, zwischen 260 und 300 Euro. Mehr als in anderen Ländern am Golf. Lächerlich im Vergleich zu einem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, das bei 104 000 Euro liegt – vermutlich deutlich darüber. Die Schere zwischen Arm und Reich ist in dem kleinen Emirat so groß, dass sich die Klingen am anderen Ende längst überschneiden müssten.

Und dennoch bezahlen Menschen, um hier zu arbeiten. Auch das ist Teil des Systems. 3000 Euro nehmen viele Vermittler als Gebühr. Ein Jahreslohn, um sich ausbeuten zu lassen. Die Abhängigkeit ist so noch größer. Wer begehrt schon auf, wenn er einen Job benötigt, um Schulden abzuzahlen? Viele nehmen sie auf sich, um der Arbeitslosigkeit und der Armut in ihrer Heimat zu entfliehen. Will man wirklich etwas ändern, muss man hier ansetzen. Da sind sich die Experten einig. Da wäre auch Europa in der Pflicht.

So aber sind große Teile der Gesellschaft in Südostasien abhängig vom Geld, das die Gastarbeiter aus Staaten wie Katar schicken. Mit über der Hälfte ihres schmalen Lohns unterstützen sie ihre Familien daheim. Sehen können sie sich nur selten. Alle ein bis zwei Jahre sind sie sechs bis acht Wochen zu Hause. Die Flüge sind teuer.

Dennoch werden zur WM wohl einige in die Heimat fliegen – nicht alle freiwillig. Viele Bauprojekte sind abgeschlossen, andere stehen wegen der WM still. Entledigt man sich so eines Teils der Arbeiter, um sie nicht weiter bezahlen zu müssen? Oder um sie aus der Öffentlichkeit zu halten? Und was ist mit denen, die im Land bleiben? Können sie sich zur WM frei bewegen? Schon jetzt dürfen die Arbeiter an Wochenenden nicht die großen Einkaufszentren besuchen. Wenn die reichen Familien shoppen gehen, wollen sie kein Elend sehen.

Die große Bühne dürfen die Gastarbeiter dem Fußball gerne bauen, dann sollen sie wieder weichen. Raus aus dem Licht – zurück auf die Schattenseite dieser Weltmeisterschaft.

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